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Der Novembermörder

Der Novembermörder

Titel: Der Novembermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Tursten
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ihre Intuition vertrauen.
    »Heute Morgen.«
    Der Anführer schnappte wütend nach Luft, bevor er losschrie: »Dieses verdammte Arschloch! Er ist mit dem Zaster abgehauen! Und dann hetzt er die Bullen auf uns, während wir hier mit nacktem Arsch herumsitzen. Ich wusste doch, dass man sich auf diesen Motherfucker nicht verlassen kann!«
    Er blieb stehen und dachte über die neuen Informationen nach, die Irene ihm geliefert hatte. Offenbar hatte sie ins Schwarze getroffen. Alles schien für ihn zu stimmen. Er blickte finster auf Irene hinunter.
    »Du kannst verdammt froh sein, dass wir es saueilig haben. Aber …«
    Er wandte sich zu seinen Kumpels um. Auch der Dünne hatte sich in der Zwischenzeit wieder auf seine zitternden Beine erhoben und trat zu den anderen. Ein schadenfrohes Grinsen glitt über sein schlaffes Gesicht, als der Anführer fortfuhr: »… was macht ein Hell’s Angels mit allen Scheißbullen? Na? Ja, genau!«
    Alle vier hatten sich in eine Reihe gestellt. Sie machten die Reißverschlüsse ihrer Lederhosen auf, zogen ihre Glieder heraus und fingen an zu pissen, abwechselnd auf Irene und Jimmy. Die kleine Blondine lachte schallend, schlug sich auf die Schenkel und musste sich vor Lachen an die Wand lehnen.
    »Das ist nicht gefährlich. Das ist nur Urin. Das ist alles gar nicht wahr! Wir sterben nicht dran. Lieber Gott, lass es bald vorbei sein.« Stumm wiederholte sie die Sätze immer wieder wie eine magische Formel, um die wachsende Hysterie in ihr in Schach zu halten. Der Gestank und der warme Urin auf ihrem Gesicht brachten sie schließlich doch dazu, sich zu übergeben. Und plötzlich war es vorbei. Das Licht wurde ausgemacht und sie verschwanden lachend nach draußen. Bevor er die Tür zuwarf, drehte sich der Anführer noch einmal um und sagte: »Wag ja nicht, die Tür zu öffnen, wenn du noch ein bisschen leben willst. Außerdem bringt es dir auch gar nichts, denn ich werde den Riegel vorlegen.«
    Sie wusste sowieso, dass sie eine ganze Weile lang erst einmal nicht in der Lage sein würde, sich zu bewegen. Sie wollte diese Tür gar nicht öffnen. Das erste Gefühl, das in ihr hochstieg, als die Tür sich hinter der Bande schloss, war nur eine unglaubliche Erleichterung. Sie waren weg. Sie konnte hören, wie sie die schweren Maschinen in dem Lehmmatsch draußen manövrierten und in Position brachten. Die Räder hatten an der Vorderseite des Schuppens gestanden. Deshalb hatten Jimmy und sie sie von ihrem Ausguck auf dem Steinhaufen nicht sehen können.
    Plötzlich wurde ihr bewusst, dass es draußen ganz still geworden war. Sie setzte sich auf, alle Sinne bis aufs Äußerste gespannt. Die zertretene Rippe versetzte ihr einen Stich, aber sie spürte ihn kaum. Vorsichtig stand sie auf. So leise wie möglich bewegte sie sich geduckt und halb kriechend aufs Fenster neben der Tür zu. Wachsam schaute sie über den Rand der schmutzigen Scheibe. Am Rand des Lichtkegels der schummrigen Außenlampe an der Hauswand konnte sie die Konturen der vier Motorräder und die Reflexe der Lederoveralls erkennen. Auf ein Kommando hin starteten alle Maschinen gleichzeitig. Drei fuhren los, während die vierte noch zögerte. Irene konnte erkennen, dass der Fahrer eine Wurfbewegung mit dem Arm machte, bevor auch er seine Maschine voll aufdrehte. Er hatte etwas durch die schmutzige Scheibe geworfen und reflexartig fing sie den Ball auf. Mehrere Jahre als Torwart in der Frauenhandball-Mannschaft der Polizei hatten ihre Spuren hinterlassen. Der kleine Ball war überraschend schwer. Da brauchte man sich keinerlei Illusionen zu machen.
    Ein Hell’s Angel hatte ihn geworfen. Also war es eine Handgranate. Die tiefen Einkerbungen bestätigten, was ihr Gefühl ihr bereits gesagt hatte. Ohne bewusst darüber nachzudenken, warf sie sie wieder durchs Fenster hinaus.
    Als die Explosion angerollt kam, brannte die heiße Druckwelle in ihrem Gesicht. Eine magnesiumweiße Lichtwelle setzte die Dunkelheit in Flammen und verbreitete sich in alle Richtungen. Das blendende Licht zog alle Sinneswahrnehmungen an sich und hinterließ sie Sekunden später in einem kalten, dunklen Vakuum. Der Knall hatte sie zunächst taub gemacht. Bald wurde die totale Stille durch einen heftigen Schmerz und einen schrill pfeifenden Ton ersetzt, der ihr in den Ohren hallte. Vor den Augen tanzten Flecken in allen Farben des Spektrums. Das Blickfeld wurde von den Seiten her verengt und eine neue Welle der Übelkeit stieg vom Zwerchfell her in ihr auf. Die

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