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Der Novembermörder

Der Novembermörder

Titel: Der Novembermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Tursten
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man das Gefühl hatte, man läge auf dem Bauch zwischen den Wiesenblumen und schaute über den Felsrand hinunter in das Tal, auf die beiden prachtvollen Schmetterlinge. Der Himmel war nicht blau, sondern ein silberweißes Gewölbe über den Bergen, das ein kräftiges Licht verbreitete, das an den Rändern in warmrosa Töne überging. Das war weder Sonne noch Mond. Das war das Licht an sich.
    »Was schauen Sie?«
    Jonas’ Frage ließ sie zusammenzucken.
    »Das Bild … es ist wunderschön!«
    Sie lächelte Jonas an und ihr Blick wurde von seinem aufgesogen. Dort drinnen sah sie den Widerschein. Dunkelheit, Verzweiflung, Angst und Einsamkeit. Aber auch eine große Ruhe. Die Gewissheit, dass alles ein Ganzes bildete. Wenn er nicht diesen Widerschein in sich hätte, wäre es ihm nie möglich gewesen, diesem Licht Ausdruck zu verleihen.
    »Das sind Chester und ich. Das Schmetterlingspaar. Ich habe das eine Woche nach seinem Tod gemalt. Damals war ich für einen Tag klar im Kopf, aber dann bin ich zusammengeklappt. Hatte eine Blutvergiftung«, sagte er mit klarer Stimme.
    Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Der Schleier auf den Pupillen war wie weggeblasen.
    »Der obere Schmetterling, das ist Chester. Er befindet sich bereits im Lichttunnel. Am Ufer des Lebensflusses liegt sein eingetrocknetes Blut.«
    Erst jetzt sah Irene, dass der Strand einen schwach rosabraunen Ton aufwies. Direkt am Wasser gab es eine schärfere, blutrote Spur. In der linken Ecke wurde die blutrote Farbe wieder aufgenommen, bis die Blumen sie überwucherten.
    »In der linken Ecke sehen Sie mein Blut. Es ist dabei auszulaufen. Es läuft aus … aus dem Bild.«
    Er hustete wieder und atmete angestrengt.
    »Der weiter unten fliegende Schmetterling, das bin ich. Ich bin immer noch mit der Erde verbunden. Das wird durch die Blumen symbolisiert. Aber ich bin auf dem Weg. Nach oben.«
    Eine Weile sagte er nichts mehr. Irene war wie verzaubert von dem Gemälde. Es war groß, sicher zwei Quadratmeter. Und obwohl Jonas’ Interpretation sie hätte traurig stimmen müssen, vermittelte das Bild ihr keinerlei Gefühl von Trauer.
    Ganz im Gegenteil, sie fühlte, wie Lebensfreude und Trost sie durchströmten.
    »Sie müssen verstehen, Irene, ich warte auf das Sterben. Nicht, damit meine Leiden ein Ende haben, denn ich habe nicht mehr viele Schmerzen. Aber ich habe auch keine Würde mehr. Ich scheiße ins Bett und brauche Katheter und Windeln. Nicht mal mehr einen runterholen kann ich mir. Kriege eine Scheißangst, wenn die Atemnot kommt und weil ich nicht mehr gehen kann. Aber ich will nicht selbst Schluss machen. Das Leben ist ein Geschenk. Bis zu dem Ende, das einem zugewiesen wird.«
    Das war eine viel zu lange Rede gewesen. Der Hustenanfall wollte gar kein Ende nehmen. Irene fühlte sich machtlos und unbeholfen, als der magere Körper sich schüttelte. Mona hielt ihn im Arm und stützte ihn. Sie sprach leise und beruhigend auf ihn ein, wie es alle Mütter tun, die ihr krankes Kind trösten. Aber das kranke Kind hier war ein Mann. Der im Sterben lag.
    Jonas dämmerte eine Weile vor sich hin. Mona und Irene sahen sich das andere Bild an, das im Zimmer war. Es hing an der Wand gegenüber Jonas’ Bett, sodass er es mühelos sehen konnte. Es war das Portrait eines dunkelhäutigen Mannes. Im Hintergrund war ein Saxofon zu sehen, Notenblätter und Notenzeichen. Das ganze Gemälde war in einen Goldton gehaucht, vom Saxofon bis zu einem neblig-goldenen Hauch, der über Mund und Augen des Mannes hing. Irene wandte sich Mona zu.
    »Wer ist der Mann auf dem Bild?«
    »Chester. Chester Johnson, Jazzmusiker. Er ist im April mein Schwiegersohn geworden. Sie haben zu Hause geheiratet, weil es Chester schon zu schlecht ging, um ins Rathaus zu gehen. Damals hatte Jonas gerade eine etwas bessere Phase. Aber seitdem Chester von uns gegangen ist, konnte er auch nicht mehr. Außer in der Zeit, als er die Schmetterlinge gemalt hat.«
    Jonas wachte wieder auf und räusperte sich. Wieder begann er mit schwacher, etwas verwischter Stimme zu sprechen: »Ich bin neugierig. Das ist eine Reise, die wir alle antreten müssen. Aber nicht allein. Genau wie auf dem Bild wird Chester bei mir sein. Er wird mich führen und meine Hand halten, wenn ich Angst bekomme. Er war in den letzten Tagen schon mehrere Male bei mir. Aber er hat es richtig gemacht. Es ist schöner, im Sommer zu sterben. Dann ist es wärmer und schöner mit all den Blumen. Die Leute frieren sich auf dem Friedhof nicht

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