Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Tag auf dem Sofa und konnte nicht mehr aufstehen. Sein Verstand funktionierte, aber sein Körper nicht.
Als am 28. Juni 1919 der Versailler Vertrag geschlossen wurde, sah ich Erich das letzte Mal lächeln.
»Schön, wie du lächelst«, sagte Nora und strich ihrem Vater über die verschwitzte Stirn.
»Ich habe auch allen Grund dazu.« Erich versuchte es Nora, die natürlich keinen blassen Schlimmer hatte, zu erklären. Wobei er sich mehrmals unterbrach, hustete und Blut spuckte, um dann wieder zu lächeln.
Was viele Deutsche als Schande empfanden, als Erniedrigung und Demütigung, schien für Erich eine Genugtuung zu sein. Mit dem Versailler Vertrag war der Erste Weltkrieg endlich beendet, und Deutschland wurde die Schuld am Krieg gegeben.
»Zu Recht«, sagte Erich, während Liesel leicht den Kopf schüttelte.
Erich war auch damit einverstanden, dass Deutschland die im Krieg eroberten Gebiete abtreten musste, unter anderem auch Elsass-Lothringen an Frankreich, Posen und Westpreussen an Polen. Auch gegen die Reparationszahlungen, die Deutschland leisten musste, hatte Erich nichts einzuwenden.
Je länger er nun schon krank war, umso mehr fanden sich alle damit ab, dass er den ganzen Tag auf der Couch lag und nur noch selten etwas sagte. Sophie und Liesel wechselten sich ab, ihn zu pflegen. Nora war mehr unterwegs als zu Hause, und ich stand auf dem Wohnzimmerbuffet und langweilte mich.
Ab und zu bekam Erich Besuch, oder Nora brachte einen Jungen mit, der ein bisschen Schwung in die Eintönigkeit meines Alltags brachte. Einmal tauchten zwei junge Männerbei Erich auf, die den ganzen Nachmittag auf den Sesseln saßen, tranken, rauchten und über Dinge redeten, von denen ich nichts verstand. Plötzlich warf einer der beiden einen Blick auf mich, stand auf und sagte: »Ich werd verrückt!«
Der andere blickte ihn verwirrt an.
»Ich hab’s«, sagte der Mann, der jetzt zu mir kam und nach mir griff. »Der gelbe Nussknacker! Wir nennen unser Manifest ›Im Angesicht des gelben Nussknackers‹.«
Er hob mich hoch, küsste mich und stellte mich wieder zurück auf das Wohnzimmerbuffet.
»Du spinnst doch«, sagte der andere Mann auf dem Sessel, während Erich wieder mal lächelte.
* * *
Im Dezember 1921, an dem Tag, als der deutsche Physiker Albert Einstein den Nobelpreis bekam, starb Erich in den Armen von Sophie. Während die Mehrheit der Deutschen feierte, trauerten wir.
Nora vergrub sich immer mehr in ihre Bücher. Sie las Bücher, so dick wie Ziegelsteine, darunter Thomas Manns »Buddenbrooks« oder »Tonio Kröger«. Am normalen Leben schien sie kaum noch Anteil zu nehmen.
Sophie verliebte sich in einen viel jüngeren Mann und war unbeschwert und heiter. Sogar Liesel war, so kam es mir vor, nach Erichs Tod weniger mürrisch als zuvor.
Für mich dagegen änderte sich gar nichts. Ich stand noch immer auf dem Wohnzimmerbuffet und langweilte mich – bis zu dem Tag, an dem wieder ein bisschen Schwung in die Bude kam. Nora vergaß ihre Bücher, Sophie ihren Liebhaber und Liesel ihre schlechte Laune.
Alle drei gingen aufgeregt im Wohnzimmer umher, schüttelten den Kopf und murmelten immer wieder: »Das gibt’s doch gar nicht.«
Ein Wort hing in der Luft, vor dem alle wie elektrisiert zusammenzuckten: Inflation. Was das bedeutete, konnte man tagtäglich sehen. Was gestern noch viel wert war, wurde heute zu nichts. Die Geldscheine wurden immer größer. Es standen immer längere Zahlen darauf, für die man immer weniger kaufen konnte. Das Geld rann den Leuten wie Sand durch die Finger. Bald war die Mark nicht mal mehr das Papier wert, auf das sie gedruckt wurde. Ein Dollar kostete 40 000 Mark. Mühsam Erspartes verschwand über Nacht im schwarzen Loch der Inflation. Für ein Pfund Kartoffeln, das an einem Tag noch 50 000 Mark gekostet hatte, musste man am Tag darauf 100 000 Mark hinblättern.
Alle, die es sich leisten konnten, kauften Aktien von ihren Ersparnissen. Banken schossen wie Pilze aus dem Boden und machten gigantische Umsätze. Manche Leute wurden steinreich und gaben das Geld mit vollen Händen aus. Das Leben war für sie ein einziges Vergnügungsviertel, während andere am Straßenrand um ein Almosen bettelten. Ein paar Wenige wurden immer reicher, die meisten Leute aber stürzten in eine finanzielle Katastrophe. Vielen blieb nichts anderes übrig, als zu betteln. Vor allem alte Menschen zählten zu den Verlierern. Sie litten Hunger und verzweifelten. Viele stürzten sich lebensmüde aus dem
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