Der Pakt
keine große Lust zu einer neuen Offensive. Es fehlte nicht an Tapferkeit, aber nur die wenigen Verstärkungstruppen, die frisch aus Deutschland kamen und noch keinerlei Erfahrung mit dem russischen Winter hatten, waren fanatisch genug zu glauben, dass der Krieg in Russland noch zu gewinnen war. Zutiefst demoralisiert, schlecht ausgerüstet und unzureichend versorgt, standen die deutschen Soldaten fern der Heimat, in einem riesigen, unwirtlichen Land und ohne strategischen Gesamtplan einer Armee gegenüber, die jeden Tag stärker wurde und deren Zurückweichen jetzt ausgeschlossen schien.
Von allen Problemen, mit denen es Mansteins Armee zu tun hatte, war das größte Hitlers schwankender Oberbefehl: Als gerade alles zum Gegenangriff auf Kiew bereit schien, beorderte Hitler seine Panzertruppen nach Süden, zur Verteidigung der Krim, was zur Folge hatte, dass Schitomir von der Roten Armee eingenommen wurde. Es wurde zwar am 17. November vom 58.
Panzerkorps zurückerobert, aber da war die Kommandozentrale des Unternehmens Großer Sprung bereits fünfundsiebzig Kilometer nach Süden verlegt worden, in das Dorf Strischawka.
308
Strischawka, wo sich das Führerhauptquartier Werwolf befand, lag in der Nähe von Winniza, einer mittelgroßen ukrainischen Stadt mit mehreren Kathedralen – eine kleinere, provinziellere Ausgabe von Kiew. Die Stadt war Zentrum einer dem Reichskommissariat Ukraine unterstehenden judenfreien Zone, der Oblast Winniza. Etwa 200000 Juden aus Winniza und Umgebung – bis hin zu so weit entfernten Gebieten wie Bessarabien und der nördlichen Bukowina – waren in der örtlichen Ziegelei und im Wald bei Pjatnitschani ermordet worden. Alle 227 Juden von Strischawka hatte man vor dem Bau des Führerhauptquartiers Werwolf »evakuiert«. Der Tod, sagten die Einheimischen, gehörte in der Oblast Winniza zum täglichen Leben.
Als Schellenberg vom Flughafen zu dem Landhaus am Ufer des Juschny Bug gefahren wurde, wo das Sonderkommando jetzt stationiert war, fand auf dem zentralen Platz von Winniza gerade eine Hinrichtung durch Erhängen an einem dort aufgestellten Galgen statt. Sechs Trostjarez-Partisanen saßen, die Schlinge um den Hals, hinten auf einem Lastwagen. Sie saßen deshalb, weil sie so brutal gefoltert worden waren, dass keiner von ihnen mehr aufrecht stehen konnte.
»Möchten Sie zuschauen, Herr General?«, fragte der SS-Oberscharführer am Steuer des überraschend luxuriösen Horch, der Schellenberg am Flughafen abgeholt hatte.
»Großer Gott, nein.«
»Ich frage nur, weil das die Schweine sind, die ein paar Kameraden von mir ermordet und ihre Leichen verstümmelt haben. Gefunden haben wir nur die Köpfe. Vier Stück. Sie lagen in einem Karton mit dem Wort ›Scheiße‹ darauf.«
Schellenberg seufzte. »Steigen Sie aus und schauen Sie zu, wenn es sein muss«, sagte er unwirsch.
Der Oberscharführer ließ Schellenberg allein im Fond des Wagens zurück. Schellenberg zündete sich eine Zigarette an und 309
legte seine Pistole neben sich auf den Sitz, nur für den Fall, dass die Partisanen Freunde hatten, die nicht vor einem Vergeltungsakt oder einem Raubüberfall zurückschreckten – im Kofferraum des Wagens stand eine Kiste mit Gold, die er aus Berlin mitgebracht hatte, um die Kaschgai im Nordiran zu entlohnen. Er nahm sogar die Mütze ab, damit sein Rang nicht so offensichtlich war, und klappte fröstelnd den Kragen seines Ledermantels hoch. Draußen lag die Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt. Über der Stadt hing eine feuchtkalte Nebelschicht, die ihm in die Knochen kroch und offenbar auch in den Zündverteiler des Exekutionslastwagens, der nicht anspringen wollte. Schellenberg lachte verächtlich und schüttelte den Kopf. Geschieht unseren Leuten hier recht, wenn sie schon ein Spektakel daraus machen wollen, dachte er. Lieber einen Mann erschießen und fertig als so ein Theater. Himmler wäre da natürlich ganz entgegengesetzter Meinung gewesen.
Himmler war immer dafür, an den Opfern der Reichsjustiz gleich noch ein Exempel zu statuieren. Was vermutlich auch erklärte, warum Himmler nach Hitler der bestgehasste Mann in Europa war. Wobei er den Hass auf seine Person offenbar gar nicht zu registrieren schien, nicht einmal in Deutschland. Ihm, Schellenberg, erschien es absolut lächerlich, dass der Reichsführer-SS je hatte glauben können, die Alliierten würden lieber mit ihm Frieden schließen wollen als mit Hitler. Für Schellenberg stand außer Zweifel: Irgendwann würde
Weitere Kostenlose Bücher