Der Patient
Ebenso wenig wusste er, wie überhaupt. Schulden passen gut in das Spiel, das der Mann ausgeheckt hat, gab Ricky zähneknirschend zu. Er glaubt, ich stehe in seiner Schuld, und zwar einer, die nicht per Scheck oder Kreditkarte zu begleichen ist.
Es war wohl ein morgendlicher Besuch bei der nächsten Zweigstelle seiner Bank angesagt. Er versäumte auch nicht, einen Anruf bei dem Mann zu machen, der sein bescheidenes Anlage-Portefeuille betreute, und hinterließ bei seiner Sekretärin die dringende Bitte um Rückruf des Börsenmaklers. Dann lehnte er sich einen Moment zurück und fragte sich, wie es Rumpelstilzchen wohl gelungen war, in diesen Bereich seines Lebens einzudringen.
Ricky war ein Computeridiot. Internet und AOL, Yahoo oder Ebay, Websites, Chatrooms und Cyberspace kannte er dem Namen nach, aber nicht aus eigener Anschauung. Seine Patienten erzählten des Öfteren von einem Leben mit der Tastatur, und so hatte er eine gewisse Vorstellung davon, wozu ein Computer imstande war, aber noch mehr davon, was er mit den Patienten anstellen konnte. Er hatte nie die Notwendigkeitgesehen, sich selbst irgendwelche Kenntnisse dieser Art anzueignen. Was er festzuhalten hatte, schrieb er mit dem Stift in seine Notizbücher. Wenn er einen Brief schreiben wollte, tippte er ihn auf einer vorsintflutlichen Schreibmaschine, die über zwanzig Jahre auf dem Buckel hatte und die er im Schrank aufbewahrte. Dabei besaß er eigentlich einen Computer. Im ersten Jahr ihrer Krankheit hatte seine Frau sich einen angeschafft und in dem Jahr, als sie starb, noch aufgerüstet. Er hatte mitbekommen, dass sie den Apparat dazu benutzt hatte, elektronisch mit Selbsthilfegruppen für Krebspatienten in Verbindung zu treten und sich in jener eigentümlich abgerückten Welt des Internet mit Leidensgefährten auszutauschen. Er hatte sich bei diesen Vorstößen nicht eingebracht, um ihre Privatsphäre zu respektieren, auch wenn man ihm dies als mangelndes Interesse hätte auslegen können. Der Computer hatte auf ihrem Schreibtisch in der Schlafzimmerecke gestanden, an dem sie saß, wenn sie sich stark genug fühlte, das Bett zu verlassen. Kurz nach ihrem Tod hatte er ihn in einen Karton gepackt und in einem der Kellerräume seines Gebäudes verstaut. Er hatte vorgehabt, ihn wegzuwerfen, vielleicht auch einer Schule oder Bücherei zu spenden, sich aber einfach nicht darum gekümmert. Ihm wurde bewusst, dass er ihn jetzt vielleicht brauchen könnte.
Weil, wie er vermutete, Rumpelstilzchen sehr wohl damit umzugehen verstand.
Ricky erhob sich und beschloss in diesem Moment, den Computer seiner toten Frau aus dem Keller zu holen. In der rechten oberen Schreibtischschublade bewahrte er den Schlüssel zu einem Vorhängeschloss auf, den er sich schnappte.
Er schloss sorgsam seine Wohnungstür hinter sich ab und nahm den Fahrstuhl in den Keller. Seit Monaten war er nicht mehr da unten gewesen, und bei der abgestandenen, muffigenLuft, die ihm entgegenschlug, zog er die Nase kraus. Sie stank widerwärtig nach Alter und Dreck, ausgedörrt von der Heizung. Kaum war er aus dem Fahrstuhl getreten, schnürte es ihm die Brust zu wie bei einem Asthmatiker. Er fragte sich, wieso die Hausverwaltung hier unten nie sauber machte. An der Wand war ein Schalter, und als er ihn umlegte, tauchte eine nackte Hundert-Watt-Glühbirne den Keller in schwaches Licht. In jede Richtung, die er lief, warf er Schatten, die sich in grotesken Streifen über die modrige Dunkelheit legten. Jede der sechs Wohnungen im Gebäude verfügte über einen eigenen Verschlag hinter Maschendraht, der an billige Balsaholzrahmen genagelt war; in jeden war außen die Wohnungsnummer eingestanzt. Es war ein Ort zerbrochener Stühle und alter Pappkartons, verrosteter Fahrräder, von Skiern und Schrank- sowie anderen Koffern. Das Ganze verschwand unter einer Staub- und Spinnwebenschicht und gehörte größtenteils in die Kategorie: zum Wegschmeißen zu schade, zum täglichen Gebrauch zu alt. Dinge, die sich über die Jahre angesammelt hatten, nach dem Motto, erst mal behalten, wer weiß, wozu es doch noch mal taugt.
Ricky ging leicht vorgebeugt, obwohl er reichlich Platz über sich hatte. Es lag eher an der beengten Atmosphäre. Den Schlüssel zum Vorhängeschloss in der Hand, näherte er sich seinem eigenen Verschlag.
Doch das Schloss war bereits geöffnet. Es hing am Türgriff wie vergessener Weihnachtsschmuck. Er sah genauer hin und erkannte, dass es mit einem Bolzenschneider aufgetrennt war.
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