Der Peststurm
schieben und ihm so weit hochzuhelfen, dass auch er sehen konnte, was alle so beglückte.
Judith kam mit Sarah, die den Kleinen zu Lodewig aufs Krankenlager legte, ans Fenster. Trotz immer noch unsäglicher Schmerzen genoss auch Lodewig diesen Moment gemeinsamen Glücks. »Als ich das letzte Mal im Dorf unten war, rauchte kein einziger Kamin. Und jetzt … « Der dem Tode noch immer nicht ganz Entkommene sackte ermattet zusammen. Er wurde von seinen beiden Pflegern aufs Lager zurückgelegt und von Sarah, die ihm vorsichtig ein paar Tränen bescheidenen Glücks aus dem Gesicht wischte, zugedeckt.
*
Da jeder Haushalt auf Speens Veranlassung hin so viel Brennholz und Nahrungsmittel bekommen hatte, dass es bei sparsamem Gebrauch zumindest für die nächsten zwei bis drei Wochen – auf jeden Fall aber weit über Weihnachten, Neujahr und Dreikönig hinaus – ausreichen müsste, zeigte sich das überglückliche Volk dankbar, indem es sich vom Kastellan und dem Propst nicht lange bitten ließ, das erbärmlich aussehende Innere der Pfarrkirche noch vor Weihnachten in einen einigermaßen würdigen Zustand zu versetzen, damit am Heiligen Abend seit langer Zeit wieder eine schöne Messe gelesen werden konnte. Nachdem die Männer die im gesamten Sakralraum immer noch überall herumliegenden, inzwischen teilweise mumifizierten Leichenteile und Knochen von Mensch und Tier zusammengesammelt und nach draußen gebracht hatten, konnten die Frauen damit beginnen, das Kircheninnere zu lüften und zu reinigen. Während sie mit Feuereifer schrubbten und putzten, stapften die Männer fast frohgelaunt in den Wald, um Zweige für eine weihnachtliche Dekoration ihrer Kirche und, mit stillschweigender Sondergenehmigung des Kastellans, auch noch für ihre Behausungen zu holen.
Dass sie dabei auf die Schnelle auch noch ein paar Tannen fällten, um an zusätzliches Brennholz zu gelangen, obwohl sie durch die Warmherzigkeit und Großzügigkeit des Immenstädter Oberamtes gut abgelagertes Holz zu Hause hatten, sahen sie sich gegenseitig augenzwinkernd nach und nicht als Waldfrevel oder gar als Diebstahl an. Und dass sie dabei vom Kastellan und von Ignaz gesehen wurden, weil die beiden just zur selben Zeit zwei große Weihnachtsbäume für die Kirche, einen Baum von mittlerer Größe für den ›Rittersaal‹ und eine kleine Fichte für das Vogteigebäude suchten, bekamen sie nicht mit. Als Ignaz seinen Herrn fragend ansah, kommentierte dieser das soeben Erblickte nur mit den Worten: »Die Dörfler haben schon viel zu viel gelitten … und es ist Weihnachten. Ich werde die Kandare erst wieder im Frühjahr anziehen.« Dabei legte er beschwörend einen Zeigefinger auf die Lippen. Damit sie nicht von den Männern erblickt wurden, versteckten sie sich in einer Geländekuhle und wollten für den Rückweg sogar einen kleinen Umweg zum Schloss in Kauf nehmen.
Nachdem es den ›Pater‹ nicht mehr gab und Josen Bueb nicht dabei war, konnten die Holzdiebe sicher sein, dass auch von dieser Seite aus niemand etwas von ihrem Waldfrevel erfahren würde. Aus diesem Grund besprachen sie noch an Ort und Stelle, wie sie verräterische Spuren ihrer Tat sofort nach der Schneeschmelze im nächsten Frühjahr beseitigen wollten. Im Moment drohte keine Gefahr vom Revierförster, der es sich jetzt wahrscheinlich bei einer Kanne Wein vor dem Kachelofen gemütlich machte. Selbst wenn er noch heute nach Staufen käme, wären die Schleifspuren und die Baumstümpfe schon wieder zugeschneit.
Der Sohn des Sonnenwirtes und sein grantiges Weib waren nicht die Einzigen, die sich davor drückten, bei der vom Propst angeordneten Kirchenreinigung mitzuhelfen. Die zwei Frauen, die Lodewig dabei beobachtet hatte, wie sie eine Leiche in ihre Behausung gezogen hatten, waren hektisch damit beschäftigt, das bereits abgezogene und teilweise schon mundgerecht zugeschnittene Fleisch aus dem Schnee auszubuddeln und ebenso unauffällig verschwinden zu lassen, wie sie es mit den Knochen und dem Schädel des Opfers, das nicht durch ihre Hand, sondern an Unterernährung gestorben war, getan hatten. Da selbstverständlich auch sie von der gütigen Entscheidung des Oberamtmannes profitierten und jetzt ausreichend Nahrungsmittel im Haus hatten, wollten sie sich nicht mehr unnötig der Gefahr aussetzen, durch den Verzehr menschlichen Fleisches die Geister der Pest aufs Neue heraufzubeschwören, alle Heiligen und darüber hinaus auch noch die Gerichtsbarkeit gegen sich
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