Der Ramses-Code
bin nur vollkommen überrascht – eine Einladung zu einem der ersten Männer Frankreichs …«
»Eben, eben. Sie sollten die Gelegenheit also nutzen. Kommen Sie am Sonntagabend Schlag acht Uhr zu mir. Wir nehmen meine Kutsche. Seien Sie pünktlich!«
17
Jean-François saß am Schreibtisch und arbeitete. Um die Schultern trug er ein rotes Kaschmirtuch, in das er hin und wieder die Nase versenkte, um einen (natürlich rein imaginären) Duft zu erhaschen. Durch die Wand hörte er in unregelmäßigen Abständen das röchelnde Husten Cambrys, der sich gleich ihm in vergangene Zeiten vertiefte.
Denons Zeichnungen entpuppten sich als wahre Schätze. Vor allem Tempelruinen waren darauf zu sehen, aus allen erdenklichen Perspektiven und mit einer unglaublich genauen Wiedergabe sämtlicher Details inclusive der hieroglyphischen Inschriften, wofür der Student, zumal er jetzt wußte,unter welch abenteuerlichen Bedingungen diese Präzisionsskizzen enstanden waren, dem Zeichner höchste Bewunderung zollte. Sogar zwei mit demotischen Minuskeln übersäte Originalpapyri befanden sich unter den Papieren, die Denon ihm überlassen hatte.
»Es ist unmöglich, die Gefühle zu schildern, die mich beim Studium dieser Relikte befallen«, schrieb er an Jacques-Joseph. »Wie sollte man nicht ergriffen sein, wenn man den Staub der Jahrtausende aufwühlt? Kein Kapitel bei Aristoteles oder Plato erscheint mir so sprechend wie dieser kleine Stapel von Zeichnungen und Papyri. Meine Finger fahren vielleicht über Jahreszahlen, an die sich keine Geschichte mehr erinnert, über Namen von Göttern, die seit Jahrhunderten keinen Altar mehr besitzen, und mit angehaltenem Atem, aus Angst, sie können zu Staub verfallen, nehme ich die Papyrus-Fetzen zur Hand, die möglicherweise die letzte Spur der Erinnerung an einen König verkörpern, welcher dermaleinst in einem riesigen Palast am Ufer des Nils residierte, von dem heute nicht einmal die Fundamente übrig sind.«
Der letzte Gedanke war ihm bei der Betrachtung eines Bildes gekommen, das eine Ruinenlandschaft bei Karnak zeigte, einen ehemaligen Tempel oder Palast, dessen Reste wie das Skelett eines verendeten Tieres aus dem Wüstensand ragten. Nur ein Obelisk erhob sich einsam und anscheinend unbeschädigt über das Trümmerfeld. Hier hatten die Zeit und der Baumaterialbedarf der Einheimischen ihr Zerstörungswerk mit aller Gründlichkeit verrichtet. Wehmütig betrachtete der Student die dahingesunkenen Reste einstiger Pracht. Schließlich wandte er sich wieder den Tempelinschriften zu.
»Eine Hieroglyphenschrift wirkt wie ein echtes Chaos«, notierte er, »nichts scheint am richtigen Platz zu stehen, keine klaren Beziehungen sind erkennbar. Die Bilder von Gegenständen, die in der Natur die größten Gegensätze bilden, stehen in unmittelbarem Kontakt zueinander und gehen bizarre Verbindungen ein.«
Es war nirgends erkennbar, wo ein Wort oder ein Gedankenzusammenhang anfing und endete, denn ein Symbolfolgte abstandslos dem anderen. Grammatikalische Gliederungselemente wie Satzzeichen, Wortendungen oder gar Groß- und Kleinschreibung schienen gleichfalls nicht zu existieren. Unklar war auch, in welche Richtung die Schrift verlief. Viele orientalische Sprachen, etwa das Hebräische oder das Phönizische, wurden von rechts nach links geschrieben. Koptisch freilich schrieb man von links nach rechts, was aber damit zusammenhängen mochte, daß sich dieses Idiom des griechischen Alphabets bediente. Allerdings schrieben die Griechen nicht seit alters her so. Ursprünglich sollte auch ihre Schrift andersherum verlaufen sein. Später, hieß es in antiken Quellen, habe man sich, gewissermaßen als Zwischenlösung, der sogenannten Ochsenpflug-Schreibweise bedient, was bedeutete, daß die Zeilen abwechselnd von einer Seite zur anderen gezogen wurden, eben wie die Furchen des Pfluges. Die Gesetzestexte des berühmten Solon sollten auf diese Art niedergeschrieben gewesen sein.
Die Hieroglyphen der Tempelfresken waren bald vertikal, bald horizontal in den Stein geschnitten, und bei einem Ornament gewann der Betrachter den Eindruck, daß sie wie spiegelverkehrt voneinander weg liefen. Aber je länger sich Jean-François in den Anblick vertiefte, desto sicherer war er, den Richtungsweiser gefunden zu haben. Ihm fiel nämlich auf, daß alle figürlichen Hieroglyphen, ob es sich um Menschen- oder Tierdarstellungen handelte, innerhalb einer Zeile stets in dieselbe Richtung blickten. Sein Gefühl sagte ihm, daß
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