Der Ramses-Code
Löwen-Hieroglyphe gleichzeitig als mächtigen, geistesstarken Herrscher kennzeichnen, vor dessen Zorn man sich in acht zu nehmen habe?
Jean-François erhob sich vom Schreibtisch und ging im Zimmer auf und ab. War er auf der richtigen Spur? Gesetztden Fall, die Zeichen im Namensring des Pharao galten bestimmten Eigenschaften des Herrschers, wie wußte man dann, welcher König damit gemeint war? Immerhin müßte der Löwe dann nahezu jeden Namensring zieren, denn stark, klug und mächtig war Pharao von Amts wegen. In den meisten Namensringen fand sich aber keine Löwenhieroglyphe. Es gab auch Kartuschen ohne Darstellung irgendeines Lebewesens. Sollten so profane Dinge wie Tonkrüge oder Schilfblätter Königsattribute verkörpern?
Die Ptolemäer, Fremdherrscher in Ägypten, waren bekanntlich Griechen, und Krieg hieß auf griechisch polemos . Dieses Wort steckte komplett im Königsnamen, aber es war ein griechisches Wort. Hatten die Ägypter polemos für Ptolemaios genommen und in der Figur des Löwen hieroglyphisch verschlüsselt? Stand der Löwe vielleicht für das Attribut »der Kriegerische«? Aber welche Rolle spielten dann die anderen Zeichen in der Kartusche?
Zumindest, stellte Jean-François fest, können Hieroglyphen keinesfalls Buchstaben im Sinne unseres Alphabetes sein. Das ergab sich nicht zuletzt daraus, daß dasselbe Zeichen mitunter dreimal direkt hintereinander auftauchte. So fand sich beispielsweise in der achten Zeile auf dem Rosette-Stein die Hieroglyphengruppe
und in der zwölften folgende Kombination
wobei die Triade
gleich dreimal an verschiedenen Stellen in dieser Form auftauchte. Welcher Buchstabenschrift sollte eine derartige Anordnung entsprechen? Silben konnten es allerdings auchnicht sein, denn kein Wort aller ihm bekannten Sprachen bestand aus drei gleichen Silben. Also doch eine Symbolschrift? Das Zeichenstellte einen Menschen dar, der seine Arme flehend erhob, also offenbar irgend etwas anbetete. Welcher Art der Gegenstand seiner Verehrung war, blieb freilich unklar. Sieht aus wie eine Feuerwerksrakete, überlegte Jean-François. Was aber betete man üblicherweise an? Den Pharao oder den Gott. Vielleicht war bei dieser Hieroglyphe aber nicht wichtig, wer angebetet wurde, sondern wer anbetete? Dafür kam vor allem ein Personenkreis in Frage: die Priester. Die Dreiergruppe der Anbetenden stand in der drittletzten Zeile des Hieroglyphentextes, also ziemlich weit an dessen Ende. Jean-François nahm seine Kopie des griechischen Textes zur Hand, wo sich, ebenfalls gegen Ende, die Wortfolge »die Priester der Schreine in den Tempeln« fand. War das betende Terzett zu lesen als »die Priester«? Und die drei folgenden Symbole als»die Schreine«?
Hieß das am Ende, daß die Zeichen dreifach erschienen, weil sie die Mehrzahl darstellten? Auf »die Priester der Schreine« folgte »in den Tempeln«, also wiederum eine Pluralform. An der fraglichen Stelle standen allerdings nicht noch einmal drei gleiche Hieroglyphen, sondern die Zeichen:
Jean-François preßte die Fäuste an seine Schläfen. Vielleicht war es ja gar nicht die Priester-Stelle. Damit hätte sich auch seine Mehrzahl-Theorie erledigt. Wo er auch ansetzte, immer lief er ins Leere. Nichts schien logisch an diesen Zeichen, kein Prinzip wollte sich offenbaren. Es war zum Verzweifeln.
Weiter! sagte er sich. Konzentriere dich zuerst auf Dinge, die sicher sind, und laß die Spekulationen. Sicher war beispielsweise, daß Hieroglyphen, die in Namenskartuschen standen, auch außerhalb derselben auftauchten. Für die Schreibung der Pharaonennamen verwendeten die Ägypter dieselben Zeichen wie für andere Worte auch. Blieb die Frage, ob die Zeichen, wenn sie innerhalb des Namensringes standen, dasselbe ausdrückten wie außerhalb. Übrigens erschiender Namensring auch als selbständiges Zeichen, ohne jeden Inhalt, viermal auf dem Stein.
Wenn eine Kartusche einen Namen enthielt, überlegte Jean-François, dann konnte eine leere Kartusche eigentlich nur eine Bedeutung haben, und zwar »Name«. Im griechischen Text war mehrfach vom Namen des Pharaos die Rede. Er schrieb diese Übersetzungsvariante in seine Tabelle, setzte aber ein dickes Fragezeichen dahinter.
Sogar siebenmal hatte der Steinmetz diese Hieroglyphenfolge in die Ptolemaios-Stele geschnitten
davon dreimal unmittelbar an den Namen des Ptolemaios anschließend, woraus Jean-François folgerte, daß sie die Zusatztitulatur des Herrschers bedeutete, welche im griechischen
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