Der Saubere Tod
wollte Klarheit, und das Warten war auszuhalten, weil danach Klarheit herrschen würde. Das Warten war nicht auszuhalten, aber man hielt es dennoch aus. Man wartete einfach weiter. Vielleicht war es das, was Peter nicht akzeptieren konnte: daß man weiterwartete, obwohl man es nicht mehr ertrug. Aber der Arzt verschaffte ihm keine Klarheit. Zuerst mußte Johann seine Personalien angeben, dann wurde ihm von der Schwester der Blutdruck gemessen und Blut abgenommen, alles bevor er den Arzt überhaupt sah. Dann bat die Schwester ihn, sich freizumachen. Erst dann erschien der Arzt. Er kam auf Johann zu, sah ihn an und verzichtete darauf, ihm die Hand zu geben. Er drückte sein Augenlid herab und setzte sich in seinem Stuhl zurecht.
Hepatitis, daran gibt’s nichts zu deuteln.
Und was heißt das? fragte Johann.
Das weiß ich nicht, sagte der Arzt. Dazu müssen Sie mir erst mal einige Fragen beantworten. Also: Sind Sie homosexuell, haben Sie homosexuelle Kontakte?
Johann sah ihn an.
Sind Sie rauschgiftsüchtig, beziehungsweise spritzen Sie sich Heroin? Haben Sie innerhalb der letzten sechs Monate eine Bluttransfusion bekommen?
Noch was? fragte Johann.
Jetzt hör mir mal zu, mein Junge, sagte der Arzt. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder du hast eine harmlose, das heißt eine relativ harmlose Hepatitis, die kann vom schlechten Essen und allem möglichen kommen. Oder aber irgend etwas von dem, was ich eben sagte, trifft auf dich zu, dann ist die Chance desto größer, daß du eine B-Hepatitis hast, und dann muß einiges unternommen werden.
Johann sah ihn an.
Um Gottes willen, das ist auch kein Todesurteil! Also, wie stehts damit?
Johann zuckte die Schultern. Fehlanzeige. Allein der Gedanke trieb ihm die Übelkeit zurück in den Hals.
Hör zu, Junge. Wie du dein Leben lebst, ist dein Bier, und ich werde dir nicht zu sagen brauchen, daß eben alles, was man tut, seine Konsequenzen hat. Wenn dein Blut untersucht ist, werden wir das wissen. Aber schließlich gibt es außer dir noch andere Leute. Andere Leute, die du vielleicht angesteckt haben kannst, die dich angesteckt haben oder die du noch anstecken könntest. Wenn du also eine B-Hepatitis haben solltest, ist es notwendig, die Leute, mit denen du zusammenkommst, davon in Kenntnis zu setzen.
Ich kenn niemanden, sagte Johann. Der Arzt sah ihn an.
Wann weiß ich was Genaues? fragte Johann.
In drei bis vier Tagen. Das Blut muß eingeschickt werden. Morgen kommst du hier vorbei und gibst eine Stuhl- und eine Urinprobe ab.
Und was mache ich jetzt?
Gar nichts. Du gehst nach Hause und ruhst dich aus und hältst dich fern von anderen Leuten. Das ist alles, was du tun kannst.
Die Entscheidung, sich von den anderen in der Wohnung fernzuhalten, war Johann schon abgenommen, als er zurückkam, der Arzt hatte bereits angerufen. Daniela und Myra starrten ihn an wie einen Geist, und Sergej verspottete ihn mit dem ungeschälten Reis, den er auf einen Teller kippte, den er in kochendem Wasser abgewaschen hatte, eine Demonstration von Gesundheit, als würde man Pillen gegen ihn nehmen.
Wolfgang stellte ihn zur Rede: Also, was ist jetzt genau mit dir los? Wir möchten nämlich gerne Klarheit haben. Wenn du eine ansteckende Krankheit hast, haben wir verdammt noch mal das Recht zu wissen, woran wir sind.
Frag Barbara, sagte Johann.
Barbara ist nicht da, beharrte Wolfgang.
Barbara ist nie da, was!? schrie Johann.
Barbara hat nun wirklich nichts damit zu tun, sagte Wolfgang. Also, hast du jetzt eine Gelbsucht oder nicht?
Weiß nicht, sagte Johann.
Was soll das heißen? Hier ruft ein Arzt an und fragt, ob du hier wohnst, und du weißt nicht.
Laß mich vorbei, oder ich schlag dir in die Fresse und steck dich an, sagte Johann.
Wolfgang ließ ihn gehen.
Johann saß in seinem kahlen Zimmer. Draußen regnete es. Das ungemachte Bettzeug ekelte ihn. Draußen redeten sie über ihn. Er fühlte sich schmutzig, aber er war zu schwach, nach draußen zu gehen, um zu duschen. Es hätte auch nichts genützt. Der Dreck saß innen. Er hatte ihn mit Schaufeln in sich gefressen, gesogen, geatmet, getrunken. Er hatte sich den ganzen Schmutz, der sich draußen am Straßenrand ablagerte, wie Dreck unter Fingernägeln, in den Arsch ficken lassen. Das war es also, was Frauen so anders machte. So viel ernsthafter, so viel konsequenter, so viel ehrlicher. Sie hatten in ihrem Körper den Schmand, den man ihnen reinspritzte, den Dreck, die Schmiere, das Gift, die Viren, den Haß, die
Weitere Kostenlose Bücher