Der Schattengaenger
die Feuerwehr angerückt.
Wenn er nicht mit seinen Maschinen beschäftigt gewesen war, hatte es ihn nach draußen gezogen, hinaus auf die Felder oder in den Wald. Tagelang hatte er sich herumgetrieben, war nicht zur Schule gegangen und nachts nicht nach Hause gekommen. Mehrmals hatte ihn die Polizei aufgegriffen. Das Jugendamt hatte sich eingeschaltet. Dabei hatte Manuel nur eines gewollt - dass sie ihn in Ruhe ließen.
Schon damals hatte er gespürt, dass es mehr geben musste als dieses kümmerliche kleine Leben, in das er hineingeboren worden war. Er hatte sich danach gesehnt, ohne eine genaue Vorstellung davon zu haben, maßlos, schmerzlich und vergebens.
Ein paar Mal hatte er sich verliebt, doch das Gefühl hatte ihn enttäuscht. Es hatte ihn bloß an der Oberfläche berührt. Er wollte aber eine Liebe, die war wie ein Schmerz. Die ihn in jeder Faser seines Seins erreichte. Ihm die Haut brennen ließ und ihm Tränen in die Augen trieb.
Und dann hatte er das erste Buch von Imke Thalheim gelesen. Es hatte alles auf den Kopf gestellt.
Endlich hatten sie sich gefunden.
Der Mann und die Frau.
Yin und Yang.
Endlich gab es ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnte. Und das würde er. Kämpfen. Wenn es sein musste, gegen jede Macht der Welt.
Kapitel 9
Imke steckte in den Vorbereitungen für ihre Reise. Tilo hatte sie dazu gedrängt. Er fand keine Ruhe, wenn er in seiner Praxis war und Imke allein zu Hause wusste. Hätte es wenigstens Nachbarn gegeben, die hin und wieder einen Blick aus dem Fenster geworfen hätten. Doch die gab es nicht. Die Mühle lag einsam inmitten zwanzigtausend Quadratmetern unberührter Landschaft. Da konnte alles passieren.
Es fiel Tilo nicht leicht, Imke wegzuschicken. Sie waren aus beruflichen Gründen so oft getrennt, dass sie jeden Tag genossen, den sie gemeinsam verbringen konnten. Aber auch er hatte im Internet recherchiert. Knappe fünfzig Millionen Einträge unter Stalking. Er wusste, dass die Gefahr noch lange nicht gebannt war.
Imke hatte sich für eine kleine Pension im Sauerland entschieden. »Es kommt nicht darauf an, möglichst weit wegzufahren«, hatte sie ihre Entscheidung begründet. »Es kommt darauf an, möglichst unspektakulär unterzutauchen.«
Vielleicht lag sie damit richtig. Nichts verband sie mit dem Sauerland. Warum also sollte der Stalker sie dort suchen?
»Und du kommst nach?«, hatte Imke sich vergewissert. »Später?«
Später. Tilo hatte genickt. Wann würde das sein? Für wie lange musste eine Frau aus ihrem Leben verschwinden, nur weil es einem durchgeknallten Verehrer passte, sie zu belästigen?
»Seltsam«, sagte er jetzt und sah Imke dabei zu, wie sie ihren Schreibtisch aufräumte. »Dein nächster Roman wird also im Sauerland spielen.«
»Ja, nicht?« Imke grinste. »Und irgendwer wird später eine Arbeit darüber schreiben und sich fragen, welche Beziehungen die Autorin zu dieser Gegend pflegt.«
Tilo entdeckte einen Ausdruck von Spannung in Imkes Gesicht und etwas, das eindeutig als Vorfreude zu identifizieren war. Sie hatte schon ihre Fühler ausgestreckt und mit dem neuen Buch zu spielen begonnen. Gut, dachte er. Das wird sie ablenken. Wir dürfen uns von unserer Angst nicht lähmen lassen.
»Dieser Typ wird uns nicht kleinkriegen«, sagte Imke grimmig.
Sie hatten denselben Gedanken gehabt. Tilo zog Imke an sich und küsste sie.
Verwundert hatte Bert registriert, dass Imke Thalheim der Fortführung ihres Gesprächs ausgewichen war. Er hatte sie anders eingeschätzt, offen, zupackend und geradeheraus. Wenn es um ihre Tochter gegangen war, hatte sie nie gezögert, den Problemen ins Gesicht zu blicken.
Er hatte zweimal nachhaken müssen, um einen Termin mit ihr zu vereinbaren. Als er jetzt nach einem langen Arbeitstag auf die alte Mühle zufuhr, war es schon dunkel. Alle Fenster waren erleuchtet, und auch über der Scheune, die als Garage genutzt wurde, brannte Licht. Wieder einmal dachte Bert, dass er für sein Leben gern hier zu Hause wäre.
Nicht Imke Thalheim öffnete ihm, sondern Tilo Baumgart. Es gab Bert einen Stich, ihn so selbstverständlich in der Rolle des Hausherrn zu sehen. Mit einem festen, beinah freundschaftlichen Händedruck zog der Psychologe Bert in die Halle, auf deren Wänden der Schein eines gemütlichen Kaminfeuers tanzte. Die beiden Katzen lagen lang gestreckt nebeneinander auf dem schönen Terrazzoboden. Sie hoben nicht einmal den Kopf.
Tilo Baumgart war Berts Blick gefolgt. »Ein scharfer
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