Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
sie gern eine Tasse Tee trinken, aber die Anstrengung, in die Küche zu gehen und ihn sich aufzugießen, würde vermutlich über ihre Kräfte gehen.
So bin ich nicht, dachte sie. Ich bin mir fremd geworden, und das beängstigt mich.
Sie war ihr Leben lang beherrscht gewesen, ein Erfolgsmensch, eine starke, tatkräftige Frau, unabhängig in Geist und Körper. Nun lag jemand anderes auf ihrer Couch und döste und war einsam und fürchtete sich vor der Dunkelheit.
Die Amsel kam näher. Magda hatte Vögel nie wahrgenommen. Der Garten war ein abgeschiedener, grüner Ort, doch sie hatte sich nie etwas aus Blumen oder Pflanzen gemacht. Tiere nehmen von einem und geben nichts zurück, hatte sie immer gesagt. Als Kind hatte Jane Hamster und Kaninchen haben wollen, eine Katze, einen Hund. »Tiere sind keine gleichwertigen Gefährten für intelligente menschliche Wesen.«
Jetzt beobachtete sie die Amsel fasziniert. Deren ganzes Leben war eine Suche nach Futter, ohne Garantie dafür, dass dieses Futter gefunden werden würde. Vielleicht hatte der Vogel hier einen beruhigenden Vorrat gefunden. Sie hatte keine Ahnung, was Amseln fraßen. Andere Leute stellten Brotkrümel und Nüsse für die Vögel hinaus, etwas, das ihr nie eingefallen wäre. Aber sie verspürte eine plötzliche Woge von Gefühlen für die Amsel. Magda hatte ein paar Vorräte in Speisekammer und Kühlschrank und war nie sehr hungrig, doch wenn die Vorräte zur Neige gingen, würde sie irgendwie Nachschub besorgen müssen. Lieferten Lebensmittelläden nach wie vor aus? Wen konnte sie anrufen und bitten, für sie einzukaufen? Was ihr immer selbstverständlich erschienen war, erwies sich jetzt als komplexe Herausforderung. Alles war eine Herausforderung, von einem Zimmer ins andere zu gehen, sich anzuziehen, auszuziehen, zu waschen, zu baden, saubere Sachen herauszusuchen. Sie war eine jämmerliche alte Frau, und das ärgerte sie.
Aber der tiefe grüne Schatten des Gartens war besänftigend anzuschauen. Sie schloss die Augen und öffnete sie bei einem leisen Geräusch wieder. Die Amsel war verschwunden.
Die Bewegung im Zimmer war rasch und leise, und bis ihr klar wurde, was passiert war, stand er bereits neben der Couch. Magda veränderte ihre Haltung, wollte sich aufsetzen.
»Hallo, Miss«, sagte er ruhig. »Ich hoffe, Sie erinnern sich an mich.«
Sie starrte ihn an, versuchte ihn unterzubringen. Er war hoch aufgeschossen und trug Jeans und ein T-Shirt mit einem Aufdruck der Olympischen Spiele 1996 in Atlanta, der kaum mehr zu erkennen war. Irgendetwas an ihm, irgendetwas … Es gelang ihr, sich aufzusetzen. Sie kam nicht weiter.
»Kommen Sie, kommen Sie, Miss, Sie müssen sich doch erinnern.« Seine Stimme war gleichzeitig bedrohlich und flehend. »Es nützt nichts, wenn Sie mir sagen, Sie hätten mich vergessen, Miss.«
»Wie sind Sie hereingekommen?«
»Ah, das ist unser Geheimnis. Aber wenn Sie sich nicht an mich erinnern, was traurig ist, dann erinnern Sie sich vielleicht an meinen Kumpel Jiggy, der vor kurzem hier war, Miss.«
»Derjenige, der eingebrochen und Sachen mitgenommen und mich geschlagen hat, ist das Ihr Kumpel Jiggy?«
»Klingt, als würden Sie sich an ihn erinnern, also versuchen Sie, sich auch an mich zu erinnern. Ich glaube, ich setze mich hier mal ein bisschen hin.« Er setzte sich auf einen Sessel ihr gegenüber, zog ihn aber erst durch das Zimmer, um ihr näher zu sein. »Schauen Sie mir ins Gesicht, Miss, und sagen Sie mir, dass Sie sich an mich erinnern. Das wär schon was.«
Sie merkte, dass sie ihm ins Gesicht sehen musste. Sie konnte nichts anderes tun.
»Erinnern Sie sich jetzt, Miss, machen Sie schon.«
»Warum nennen Sie mich Miss? Ich erinnere mich nicht an Sie, überhaupt nicht.«
»Na gut, na gut, dann eben Doktor. Doktor. Doktor. Doktor. Jetzt werden Sie sich an mich erinnern.«
Sie legte die Hand über die Augen und schloss sie, löschte ihn aus. Er hatte große Zähne, mit Lücken dazwischen, einer davon seitlich abgebrochen. Riesige Hände.
»Doktor.«
»Wenn Sie gekommen sind, um etwas zu stehlen, nehmen Sie … was immer Jiggy übriggelassen hat. Nehmen Sie und gehen Sie.«
»Nein, nein, nein. Ich will nichts stehlen. Nein, nein.« Er lachte. Er hatte die Knie gespreizt, und seine riesigen Hände ruhten darauf. »Das hab ich nicht vor. Nein.«
»Was haben Sie dann vor? Was machen Sie hier? Bitte verschwinden Sie. Ich möchte, dass Sie verschwinden. Mir geht es nicht gut, und ich muss schlafen. Bitte
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