Der Seelenschluessel
einem Nebenzimmer. Sie trug eine Kiste mit medizinischen Vorräten und starrte Vaughn einen Moment lang schweigend an.
Dann wandte sie sich an Opaka. »Ich hörte bereits, dass wir Besuch haben.«
»Vaas«, erwiderte Opaka ruhig und fest, »bitte mach den Inhalt des Schreins transportfertig.«
»Ich ahnte, dass du das sagen würdest«, entgegnete die andere Frau. Sie nickte grimmig und strich sich mit den Fingern das schwarze Haar aus dem Gesicht. »Ich stelle ein Team zusammen und lege sofort los. Soll ich Mylea kontaktieren?«
»Nein, darum kümmere ich mich selbst. Beeil dich.« Kaum hatte Vaas ihre Kiste abgestellt und war nach draußen gegangen, wandte sich Opaka wieder Vaughn zu. »In Jaros Büro gibt es eine gesicherte Komm-Einheit. Es liegt gleich am Ende dieses Ganges. Dort finden Sie mich, sobald Sie … fertig sind.« Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging.
»Warten Sie«, rief Vaughn und eilte ihr nach. »Fertig
womit
?«
In dem Moment hörte er Prynns Stimme und erstarrte.
Sie sang leise. Eine traurige Melodie, die er nicht kannte. Der Gesang kam aus einem der kleinen, mit Vorhängen abgetrennten Zimmer, die zu beiden Seiten des breiten Ganges abgingen. Vaughn folgte ihm, denn Opaka war bereits in Jaros Büro verschwunden. Außer ihm war niemand mehr da.
Der Gesang zog ihn magisch an. Vaughn versuchte, keinen Laut von sich zu geben, als er sich dem Raum näherte – es schien der einzige der Privaträume zu sein, in dem sich derzeit jemand aufhielt – und spähte durch einen schmalen Schlitz in den Vorhängen. Prynn saß auf einem hölzernen Stuhl neben einem Computermonitor, auf dem etwas prangte, das er für das Hauptportal des hiesigen öffentlichen Komm-Netzes hielt.
Ihr Stuhl war dem Bett zugewandt, auf dem ein sterbender Mann lag.
Prynn hielt eine seiner knochigen, bleichen Hände. Der dünne Arm wirkte unfassbar zerbrechlich. Überhaupt vermochte der Krankenhauskittel den abgemagerten Zustand des Mannes nicht zu verbergen. Die schmale Brust hob und senkte sich nahezu unmerklich im Rhythmus seiner langsamen, mühevollen Atemzüge. Sein weißes Haar war ungekämmt, der Bart wucherte wild, und seine milchigen Augen starrten zur uralten Decke, ohne etwas zu sehen.
Plötzlich sah Prynn auf und verstummte mitten im Lied. Ihr Blick fiel auf Vaughn, der sie vom Gang aus beobachtete.
»Prynn«, krächzte der Sterbende mit schwacher Stimme. »Was ist?«
Die junge Frau öffnete den Mund, zögerte jedoch, als Vaughn einen Finger an die Lippen hielt.
»Prynn …?«, wiederholte der Alte.
»Du hast einen Besucher, Dad«, antwortete Prynn, den Blick noch immer auf Vaughn gerichtet. Dieser schüttelte tadelnd den Kopf.
»Wen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß nur, dass er von weit her kommt. Ich glaube, er ist ein Freund.« Prynn ließ die Hand ihres Vaters los und stand auf. »Ich lasse euch beide allein, damit ihr reden könnt. In ein paar Minuten komme ich wieder.«
»Du solltest dir etwas Schlaf gönnen«, sagte ihr Vater.
»Später«, versprach sie und küsste ihn sanft auf die Stirn. Dann trat sie zum Vorhang und ging schweigend an Vaughn vorbei.
Vaughn seufzte und machte einen Schritt nach vorn. Zuerst stand er einfach nur da, kaum mehr als einen Meter vom Fuß des Bettes entfernt. Die offenkundige Gebrechlichkeit des alten Invaliden ließ ihn zögern, stieß ihn sogar ab.
»Hallo?«, sagte der blinde Mann. »Sind Sie da …?«
»Ja, ich bin hier«, antwortete Vaughn leise und setzte sich auf Prynns freien Stuhl.
Der Mann im Bett reagierte nicht sofort. War ihm Vaughns Stimme zu fremd … oder zu
vertraut
?
»Wer sind Sie?«
Vaughn erwog kurz, der Frage auszuweichen. »Ich heiße Elias«, antwortete er dann wahrheitsgemäß. »Genau wie Sie.«
Wieder Schweigen. »Ich glaube, ich verstehe«, erwiderte der andere Mann. »Ich habe Geschichten gehört …« Seine Stimme verklang. Seine Lippen waren ausgedörrt, die Zunge grau und trocken.
»Brauchen Sie Wasser?« Vaughn sah sich um und fand eine Schnabeltasse auf dem Tisch. Er hielt sie seinem zweiten Ich an die Lippen und ließ es trinken, wobei er hoffte, dass es sich nicht verschlucken würde.
»Danke«, hauchte der andere Elias, nachdem er getrunken hatte. Seine Stimme klang nun wieder klarer, blieb aber dünn.
Vaughn stellte die Tasse zurück.
»Warum bist du hergekommen?«, fragte Elias.
Wieder antwortete Vaughn nicht sofort. »Weil mich jemand geschickt hat. Aber die Reise verlief nicht wie
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