Der Seher des Pharao
Meister Huy. Ich muss dich untersuchen.«
Doch Huy winkte ab. »Es ist nur der Kopfschmerz, den ich öfter habe. Ansonsten geht es mit gut. Gib mir bitte den Mohn, Meister, und lass mich schlafen.«
Der Mann grunzte, doch nach einem prüfenden Blick in Huys Augen reichte er ihm das Fläschchen. »Gut. Aber ich komme morgen nach der ersten Mahlzeit wieder. Und ich habe befohlen, dass ein Diener vor deiner Kammer bleibt, falls du mich in der Nacht brauchst.« Er verbeugte sich und ging.
Huy entfernte auf der Stelle das Wachssiegel von dem Fläschchen, hob es an die Lippen und trank rasch. Den Rest verdünnte er mit Wasser, um jeden Tropfen der bitteren Flüssigkeit aufzunehmen. Dann zog er seinen Schurz aus, legte sich ins Bett und zog das Laken über sich.
Er spürte, wie sich in seinen Gliedern und dann in seinem Leib die warme Schläfrigkeit ausbreitete, und wartete zuversichtlich darauf, dass der wunderbare Strom sein Bewusstsein erreichen und trüben würde, aber die Zeit verging, und er blieb hellwach. Nur die Schmerzen nahmen ab. Verärgert und enttäuscht drehte er sich auf die Seite und starrte Thutmosis’ leeres Bett an der anderen Wand an. Also wirkt nicht einmal Mohn, das stärkste Sedativ, das Ägypten kennt, bei jenem Kern in mir, der immer wach und bereit ist. Nicht einen Moment lang darf ich das Bewusstsein fallen lassen. Nur körperliche Schmerzen lindert das gesegnete Mittel. Es liegt alles an meinem Willen.
Er schloss die Augen und versuchte, den Schlaf herbeizulocken, indem er sich einen schönen, ruhigen Nachthimmel voller Sterne vorstellte. Aber die Sterne verblassten immer wieder und wurden zu dem glitzernden Grün der Blätter über Imhoteps Kopf. Wieder spannte Huys Körper, obwohl träge vom Mohn, die Muskeln an, um in die offenen Arme des Weisen zu rennen. Nachts Frau drehte den zerzausten Kopf auf dem Kissen. »Huy, es tut so weh«, flüsterten die blauen Lippen. Ihre Finger waren kalt vom Tod. Die Hand von Anubis hatte die Kälte der Macht.
Huy zog die Knie unter dem Laken an. War seine Vision für Nascha eine Lüge gewesen? Wartete die Straße der Korbmacher auf irgendein Mitglied von Nachts Familie? Da war noch etwas anderes am Rande seines Bewusstseins, etwas, das zu flüchtig und verstohlen auftauchte, um es zu fassen. Was hatte der Gott noch gesagt? »Du brauchst die Beschwörungen aus dem Buch ›Heraustreten ins Tageslicht‹ nicht. Der Sohn des Hapu hat dich vor dieser Prüfung bewahrt.« Aber was habe ich gemacht, das es Nefer-Mut ermöglichte, die wütenden Dämonen mit ihren schrecklichen Fragen zu umgehen? Sie ging direkt zu Füßen von Osiris, frei von Sünden und freigesprochen, weil ich ein anderes Schicksal zu ihrem gemacht habe.
Schließlich schlief er doch ein und hörte weder die Tempelfanfaren, die Mitternacht ankündigten, noch jene bei Tagesanbruch. Als er dann wach wurde und sich aufrichtete, entdeckte er Thutmosis, der gegenüber von ihm hockte. Der Freund war blass, und seine Augen waren von dunklen Ringen umgeben, aber sein Blick war gefasst. »Du hast die erste Mahlzeit verschlafen, und alle anderen sind schon beim Unterricht«, erklärte Thutmosis. »Der Arzt war da, hat dich geschüttelt, etwas gemurmelt und ist wieder gegangen. Hast du gestern Abend deinen Kummer in Wein ertränkt, Huy?«
Huy blickte in die braunen Augen und konnte keinen Arg erkennen. Er schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass Wein bei mir nicht wirkt. Ich habe versucht, mich mit Mohn zu betäuben. Wie geht es dir?«
Thutmosis zuckte mit den Schultern und sah weg. »Ich … wir … wir alle sind noch völlig geschockt. Vater hat sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Meri-Hathor ist von ihrem Mann nach Hause gebracht worden. Nascha und Anuket liegen sich die meiste Zeit in den Armen und weinen. Ich fühle mich einfach … allein. Ich kann es nicht glauben, dass ich den Rest meines Lebens darauf verzichten muss, sie zu sehen, sie zu hören, ihr Parfüm zu riechen, ihre Arme um mich zu spüren. Ich habe kaum geschlafen. Vater hat angeordnet, dass ich erst einmal wieder in die Schule gehe.« Er lächelte schief. »Ich glaube, wir müssen uns gegenseitig trösten. Sie hat dich geliebt, Huy.«
»Und ich sie.«
»Hast du wirklich gesehen, wie sie in das Osiris-Paradies gegangen ist, oder hast du das nur gesagt, um uns zu trösten?«
Huys Kehle war trocken, als er sich vom Bett erhob und einen Becher Wasser eingoss. »Ich habe es gesehen«, antwortete er und trank. Dabei
Weitere Kostenlose Bücher