Der Seher des Pharao
liefen ihm heiße Tränen über die Wangen. Dieses Mal trauere ich um sie. »Ich wünschte, ich hätte die Gabe zu heilen, Thutmosis. Ich hätte alles getan, um ihr zu helfen. Es tut mir so leid.«
Thutmosis stand auf, und die Freunde lagen sich unversehens in den Armen. Beide weinten. Es gab nichts weiter zu sagen.
Als Nefer-Muts einbalsamierter Körper in das Grab am Westufer gebracht wurde, das ihr Gemahl wie jeder gute Ägypter schon zu Lebzeiten hatte anlegen lassen, hatte die Schule für die Zeit der Nilschwemme geschlossen. Es war sehr heiß, und Isis hatte schon zu weinen begonnen, aber man konnte den Fluss noch sicher überqueren. Während der siebzigtägigen Trauerzeit war Huy selten in Nachts Haus. Es hatte keine Feste, keine Musik, keinen Tanz gegeben. Wenn er die Familie besuchte, zu der er jetzt gehörte, teilten sie eine einfache Mahlzeit und sprachen über die Frau und ihr stilles Wesen, das einen solchen Eindruck hinterlassen hatte.
Huy hatte wenig Gelegenheit, Anuket allein zu sprechen, und suchte die auch nicht. Sie hatte sich im Kräuterzimmer abgeschottet und flocht die zahllosen Kränze für den äußeren Sarg ihrer Mutter und die Trauergirlanden für die Gäste. Wenn Huy sie traf, hatte er den Eindruck, dass sie sich verändert hatte. Zu ihrem angeborenen Selbstvertrauen war ein Hauch Verunsicherung gekommen, ein leichtes Zögern bei ihren kurzen Gesprächen. Sie überging ihn nicht bewusst bei den Mahlzeiten oder wich ihm im Garten aus, aber die Zweideutigkeit, die er zuvor verspürt hatte, der Eindruck, sie könnte ihre Verführungskräfte als junges Mädchen bei ihm ausprobieren, war verschwunden. Nascha wurde einfach zu einer gebändigten Version ihrer selbst. Ihr oblag es, den Haushalt zu führen, und obwohl sie offenkundig alles hasste, was damit zu tun hatte, hatte sie durchaus die nötige Autorität, um die Diener zu beaufsichtigen. Thutmosis hielt sich an Huy. Sie waren schon immer unzertrennlich gewesen, aber jetzt spürte Huy deutlich, dass der Freund Kraft aus einer Quelle in ihm holte, deren Existenz er selbst bezweifelte. Thutmosis sprach oft von seiner Mutter, aber er sprach auch mit Huy über die Zukunft, welche weitere Ausbildung er machen würde, um die Regierungsgeschäfte von seinem Vater zu übernehmen, dass er ein Haus bauen und heiraten wollte, dass er denen, die er liebte, Schutz und Sicherheit geben wollte.
Nur einmal kam er auf den Unfall zu sprechen. Huy und er waren nach dem Bogenschießen im Badehaus und wuschen sich Staub und Schweiß vom Körper, als Thutmosis sagte: »Erinnerst du dich daran, was du mir vor ein paar Jahren geweissagt hast? Dass du mich alt und grau, aber reich und glücklich und immer noch gesund gesehen hast?« Huy nickte. »Nun, bist du sicher, dass du da meine Zukunft gesehen hast und nicht die von jemand anderem?« Wie bei der Vision von Nascha, lautete der unausgesprochene Zusatz.
Huy fuhr mit den Fingern durch sein langes, nasses Haar, schob es hinter die Ohren und drehte sich zu Thutmosis um. »Ich bin mir sehr sicher, dass du das warst«, sagte er und stieg von der Waschplatte, um sich ein Leinenhandtuch zu holen und seine Verlegenheit zu verbergen. »Ich weiß nicht, wieso deine Mutter auf diese Weise sterben musste, Thutmosis. Ich weiß nicht, wieso Naschas Schicksal zu ihrem wurde. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht. Ich habe darum gebetet, aber die Götter geben mir keine Antwort.«
»Vielleicht war es von Anfang an der Wille der Götter, dass meine Mutter dieses Schicksal erleidet, und aus irgendeinem Grund hast du Nascha gesehen, als du sie berührt hast. Sie sind sich sehr ähnlich, wie du weißt.«
»Vielleicht.« Mehr sagte Huy nicht, denn er war sich sicher, dass diese Schlussfolgerung falsch war und er eines Tages die Wahrheit erfahren würde. Er wusste nicht, warum, aber er fürchtete diesen Tag.
Nacht hatte dreißig offizielle Klageweiber gemietet, die der Mumie seiner Frau vom Flussufer bis zum Grabeingang folgen und sich heulend Erde auf ihre Häupter streuen sollten. Doch da Nefer-Mut sehr beliebt gewesen war, trugen mindestens viermal so viele Frauen, ihre Freundinnen und die Gemahlinnen der Mitarbeiter ihres Mannes, die Trauerfarbe Blau, und ihre formelle Totenklage mischte sich in die Kakophonie der Klageweiber.
Huy ging neben den Familienmitgliedern, dahinter folgten die Klageweiber, Verwandte, Freunde und schließlich die Schar der Diener, die dann Zelte errichteten, Wasser holten und das Essen für
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