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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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nicht wahr? Wie viele Jahre warst du nicht mehr in Hut-Herib? Schreibst du wenigstens an deine Eltern?«
    »In der Hinsicht bin ich ein pflichtbewusster Sohn«, antwortete Huy unbehaglich. »Mein Leben hat einen Abgrund zwischen uns geschaffen. Ich weiß nicht mehr, was ich mit ihnen reden soll, wenn wir uns treffen.«
    »Ich nehme an, das war unvermeidlich.« Ramose strich mit der Hand über seinen braunen Schädel. »Doch schenke Nacht und seinen Kindern nicht deine ganze Liebe, Huy. In einem Jahr wirst du die Schule verlassen. Deine Kenntnisse sind so, dass du eine gute Stellung als Schreiber in jedem Aristokratenhaushalt bekommen kannst. Aber Nacht wird den Freund seines Sohnes nicht als Diener in Dienst nehmen.«
    Nein, das wird er nicht, dachte Huy aufsässig. Aber er ist der Herrscher dieses Sepats. Er kann mir sehr gut eine Stelle in seiner Verwaltung geben. Bin ich denn im Laufe der Zeit nicht so etwas wie sein inoffizielles Adoptivkind geworden? Er liebt mich. Das weiß ich. Und er wird Thutmosis und mich sicher nicht trennen wollen.
    »Das verstehe ich, Meister«, sagte Huy. »Aber daran denke ich noch nicht. Ich habe noch ein ganzes Jahr, um Zukunftspläne zu machen.«
    »Nun gut. Ich lasse die Schriftrollen für dich holen und gehe zum Beten.« Er verzog den Mund. »Du zeigst keine Anzeichen von Wahnsinn, lieber Huy, aber wer weiß, was das Lesen am Ende aus dir macht. Deine Gabe schlummert nach wie vor?«
    »Und dafür danke ich den Göttern!«, entfuhr es Huy.
    Ramose kniff die Augen zusammen. »Erlebe ich hier die Rückkehr des anmaßenden, eigensinnigen Kindes, das einst in meine Obhut kam? Sei vorsichtig, Huy. Die Götter lassen sich nicht verhöhnen.«
    Huy wurde rot. »Vergib mir, Oberpriester, Größter der Seher. Ich wollte nicht spotten. Die Gabe war eine schwere Last, und im Augenblick bin ich froh, dass ich ihr Gewicht so lange nicht gespürt habe.« Er verbeugte sich. Nach einer Weile erwiderte Ramose die Geste und schritt davon. Huy ging in Richtung des Innenhofs mit dem Isched-Baum.
    Warum bin ich plötzlich so verärgert?, rätselte er. Die Rüge des Oberpriester war nicht scharf, und ich hatte sie verdient. Nein, was er über Nacht gesagt hat, bereitet mir Sorgen und macht mich wütend. Natürlich wird mich Nacht nicht als Schreiber einstellen und mir vielleicht überhaupt keine Arbeit geben, und ich wage nicht, meine Freundschaft mit Thutmosis in die Waagschale zu werfen, um ihn wegen meiner Zukunft zu fragen. Zurück nach Hut-Herib? Er schüttelte sich. Alles, Atum, nur nicht das!
    Er näherte sich der Wache vor der Pforte zum Hof, als der wahre Grund plötzlich in seinem Geist aufschien. Seit Nefer-Muts Tod bin ich mit mir im Unreinen, dachte er erschrocken. Doch nein, dieses Dilemma hat viel ältere Wurzeln. Es reicht zurück zu dem Gespräch mit der Rechet über meine Keuschheit und meine Gefühle für Anuket, die nie zu vergehen scheinen. Ich hoffe, die Gabe in mir ist gestorben. Wenn Nacht mir nicht eine kleine Aufgabe bei der Regierung dieses Sepats überträgt, werde ich mir eine gute Stellung im Haus eines anderen reichen Mannes suchen, und dann bitte ich ihn um einen Heiratsvertrag zwischen mir und Anuket. Verweigert er mir den, werde ich sie überreden, mit mir davonzulaufen. Ich werde ihr meine Keuschheit schenken und damit das Ding zerstören, das ich auf Schritt und Tritt mit mir herumtrage.
    Wut und Auflehnung befielen ihn wie eine Übelkeit, und einige Augenblicke lang konnte er kaum Luft holen. Der Wächter sah ihn besorgt an. »Meister, bist du krank?«, fragte er. Huy schüttelte den Kopf und deutete auf die Tür. Den Kosmos beherrschen? Ich bin ein Wurm, Atum. Ein Feigling. Ein anmaßendes, selbstsüchtiges Kind. Ich werde darum kämpfen, die Herrlichkeit des Paradieses zu vergessen. Ich werde meine Nase an eine Lotosblüte halten und ihren Duft als betörend bezeichnen. Ich werde mein Schicksal selbst in die Hand nehmen.
    Der Isched-Baum hatte zu dieser Zeit des Jahres keine Blüten mehr, verströmte aber immer noch die Mischung aus gesunder Süße und Fäulnis, die Huy inzwischen vertraut war. Er trat unter den Baum, starrte das dichte Laub an und spürte plötzlich einen heftigen Trennungsschmerz im Herzen. Er erwies dem Baum keine Reverenz, aber Ramose, der kurz nach Huy gekommen war, tat es und verbeugte sich vor ihm. Dann stellte er ein Kästchen auf die kleine Grasfläche, wo Huy üblicherweise saß. »Vielleicht enthüllt sich dir ja heute der Wille Atums,

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