Der Seher des Pharao
des Verlusts meiner Gabe«, wandte Huy ein. »Und du auch nicht, Rechet. Manche Seher zeugen Kinder und behalten ihre Gabe. Andere nicht.«
»Und du möchtest einer von denen sein, die es nicht tun«, entgegnete Henenu. »Du bist nahe daran, den Gott zu hassen, der dies für dich bestimmt hat. Du hast beschlossen, Nacht um einen Heiratsvertrag mit Anuket zu bitten. Den wird er dir nicht geben. Zum einen, weil er sich einen Adeligen für seine Tochter wünscht, zum anderen und hauptsächlich aber, weil er eine gesündere Furcht als du vor dem Zorn der Götter hat. Er möchte beim Totengericht freigesprochen werden, insbesondere seit der Grablegung seiner Frau. Aber geh hin und versuch es, du Dummkopf. Lass dich abweisen. Finde ein anderes Mädchen zum Heiraten. Es macht keinen Unterschied.«
»Ich glaube, die Gabe in mir ist sowieso schon tot«, sagte Huy störrisch.
»Du lügst. Nacht hat mir erzählt, dass du eine Vision hattest, als seine Frau gestorben ist. Die Gabe ruht, mehr nicht. Atum ist geduldig. Er möchte, dass du dich dem Buch völlig hingibst. Und solange du das nicht tust, wird dein Ach sicher von der Verwirrung erfüllt sein, von der du gesprochen hast. Oh Huy.« Der Kamm landete mit einem Klicken auf dem Tisch, und sie begann geschickt seinen Zopf wieder zu flechten. »Große Taten warten auf dich in einer Zukunft, in die ich nicht blicken kann. Etwas, das für Ägypten entscheidend ist. Dein Mut darf dich nicht verlassen, denn sonst wird Ägypten im Chaos versinken!« Huy wirbelte erstaunt herum. Ihre faltigen Züge waren verzogen, und sie hatte die Augen zusammengekniffen. »Ich lüge nicht. Ich versuche nicht, dich zu überreden. Ich sage nur, was ich in deiner Nähe deutlich spüre. Die Kraft dessen erstickt mich fast. Das hat nichts mit den Chatiu-Scharen zu tun, die die meisten von denen bedrängen und angreifen, die wegen einer Exorzierung zu mir kommen. Sie scharen sich um dich. Sie wollen nicht, dass sich deine Bestimmung erfüllt. Aber sie können nicht an dich heran. Hier geht es um etwas anderes, etwas Größeres und Schrecklicheres.« Sie legte die beiden vom Öl glänzenden Hände an seine Wangen. »Du hast Schai. Du hast eine mächtige Bestimmung. Was ist ein flüchtiger Orgasmus im Vergleich dazu?«
Huy machte sich los. »Das weiß ich nicht, denn ich habe bislang keinen Orgasmus erlebt«, sagte er mit belegter Stimme. »Und wenn du recht hast, Rechet, werde ich das auch nie. Doch ich schwöre, ich werde es versuchen!« Er stand auf. »Ich liebe dich. Du bist meine Freundin, meine Ratgeberin, du warst so nett zu mir – aber du bist auch unbarmherzig. Ich habe alles getan, was man von mir verlangt hat, aber jetzt bin ich es leid. Das Buch ist nichts als ein wirres Durcheinander in meinem Geist, der Heka ist unerträglich. Ich stehe an der Schwelle zum Leben, und ich will meine Freiheit!«
»Du standest an dieser Schwelle, als Sennefers Wurfholz sein Ziel fand«, unterbrach sie ihn ruhig. »Du bist der Wiedergeborene, Huy, ob dir das gefällt oder nicht. Freiheit gehörte zu deinem ersten Leben. Dieses Leben wurde ausgelöscht. Der Dienst für Atum und nur er ist der Zweck des zweiten. Vielleicht beschließt er, die Last von dir zu nehmen. Doch das ist seine Entscheidung, nicht deine. Du hast keine Entscheidungen zu treffen.« Sie umarmte ihn unvermittelt, ihr drahtiges graues Haar kitzelte in seinem Nacken, und ihre kräftigen Arme lagen um seine Taille. »Doch kämpf gegen ihn an, wenn du willst«, seufzte sie. »Wenn du mit ihm ringst, bist du nicht mehr als eine Maus im Schnabel des Falken. Geh jetzt. Ich wusste um deinen Schmerz, aber nicht, wie tief er ist. Ich werde Beschwörungen für dich sprechen. Nimm das Sa nicht ab.«
Die Schwere in seinen Armen und Beinen ließ nach. Ohne noch etwas zu sagen, machte er eine tiefe Verbeugung und ging.
Die Sänftenträger schliefen gegen die Mauer gelehnt, sodass die Vorübergehenden über ihre ausgestreckten Beine steigen mussten. Herrisch rüttelte Huy sie wach, befahl, ihn zu Nachts Haus zu tragen, stieg in die Sänfte und zog die Vorhänge zu. Der Abend bot ihm keine Freuden mehr. Der enge Raum war alsbald erfüllt vom Geruch des Alraunenöls in seinem Haar, aber die Wirkung hatte sich verflüchtigt. Für Huy konnten die Sänftenträger nicht schnell genug zum Anwesen des Gaufürsten gelangen.
Er entließ sie vor dem Eingang, grüßte Nachts Pförtner und schritt eilig zum Haus. Es war jetzt vollends dunkel, und die warme Luft
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