Der Seher des Pharao
mir das hier eingebrockt.«
Ischat nippte mit Genuss an dem Wein, dann stellte sie den Becher ab und fragte: »Wo ist er jetzt? Hat ihn einer der Jungen gestohlen, als du tot warst?«
»Ich weiß es nicht. Er war in dem Kästchen, das mir mein Onkel geschenkt hat. Das war dort, wo auch mein Senet-Spiel, mein Nefer-Amulett und meine Schreiberpalette waren. Oh, Ischat, ich kann die Sachen vor mir sehen! Schau unter mein Bett. Sieh nach, ob das Kästchen dort ist.« Sie ging auf die Knie, kramte herum und tauchte mit dem Zedernkästchen wieder auf. Huy riss es ihr weg und drückte es an seine Brust. Er wollte es erst öffnen, wenn sie weg war.
»Abgesehen von dem albernen Heiligenschein aus Wuschelhaar auf deinem Kopf, hast du dich wirklich kaum verändert«, sagte sie leicht schmollend. »Zeig mir die Wunde.« Das Kästchen immer noch an sich gepresst, drehte sich Huy zur Seite. Sie kletterte neben ihn und während ihr lauter Atem in sein Ohr drang, spürte er, wie ihre flinken Finger über das glitten, was er selbst inzwischen als Schlucht bezeichnete. Sie lehnte sich zurück. »Sie ist wirklich scheußlich«, verkündete sie. »Tief und rot und ganz zerfurcht. Ich habe gehört, es sei ein Wurfholz gewesen.«
Huy schämte sich ob der Entstellung. »Das hat man mir auch gesagt«, erwiderte er knapp. »Aber ich sehe die Person, die es geworfen hat, nicht vor mir. Und auch keine anderen Jungen.«
Ischat grinste. »Dann sind wir wieder gleich. Du bleibst jetzt zu Hause, nicht wahr? Keine Schule mehr. Keine aristokratischen Freunde mehr. Nur ich. Jetzt musst du mich doch heiraten. Ich bin die Einzige, die keine Angst vor dir hat.« Als sie die Qual in seinem Gesicht sah, nahm sie seine Hand und legte sie an ihre Wange. »Es tut mir leid. Das war gemein. Ich glaube nicht, dass du besessen bist. Du nicht! Aber ich wollte mich selbst davon überzeugen. Mutter hat mich, seit du zurück bist, vom Haus ferngehalten.« Sie lächelte. »Wenigstens hat mich das eine Weile davor bewahrt, Böden fegen, Leintücher waschen und mich am Kochen versuchen zu müssen.« Sie ließ ihn los. »Ich verschwinde lieber, ehe wir deine Eltern wecken. Darf ich dich wieder einmal mitten in der Nacht besuchen?«
Er nickte, sagte aber nichts. Nach einer Weile trank sie rasch den Wein aus und lief geräuschlos davon. Der Schilfvorhang schlug noch einmal gegen die Wand, dann herrschte wieder Stille im Haus.
Huy stellte sich vor, er würde Ischats Berührung noch immer auf seinem Kopf spüren, und schaffte es, nicht an der Wunde zu kratzen. Ich habe also eine Freundin, deren Vertrauen in mich nicht wankt, dachte er. Ich kenne sie und kenne sie doch nicht. Hinter ihrem Gesicht und ihren Gesten stehen Farben und Bilder von Ereignissen und Gesprächen, aber sie sind so durcheinander, dass ich sie nicht zusammensetzen kann.
Trotzdem war sein Herz viel leichter, als er das Zedernkästchen ehrfürchtig auf seine Oberschenkel stellte und den Deckel mit dem Silberbild des Ewigkeitsgottes Heh öffnete. Ein angenehmer Duft stieg Huy in die Nase. In einem der Fächer lag der Skarabäus, in ein fleckenloses Stück Leinen gewickelt. Huy schlug es auf und betrachtete die glänzende Kreatur. »Er trieb im Hochwasser«, war Ischat laut zu hören. Huy sah erschrocken auf, aber die Lampe beleuchtete ein leeres Zimmer. »Vater sagt, Skarabäen sind sehr selten hier im Delta. Sie bevorzugen die Wüste«, fuhr die Stimme fort, und Huy merkte, dass sie in ihm ertönte. »Er sagte, er würde mir Glück bringen, aber ich sagte, Huy braucht das eher, wenn er weit weg von hier in der Schule ist.« Die Unmittelbarkeit, mit der er sich an die Worte erinnerte, verursachte Huy Übelkeit. Mein Namensgebungstag, dachte er. Im Garten. Etwas anderes blitzte auf. Er rannte durch den Gang vor seinem Zimmer in den sonnenbeschienenen Garten, doch er zweifelte, ob das auch etwas mit dem Skarabäus zu tun hatte.
Das Senet-Spiel vergegenwärtigte ihm seinen Vater. Das Brett hatte eindeutig Hapu voller Liebe und Sorgfalt gearbeitet. »Ich sehne mich so nach dir, lieber Vater«, flüsterte Huy, als er das Spiel beiseitelegte. »Ich verstehe deine Feigheit nicht. Nichts unter der Maat könnte mich dazu bringen, dir ein Leid anzutun.«
Auf einem Stapel Schurzen und Tuniken fand er die Schreiberpalette. Er hob sie auf, rollte die Pinsel über sein Handgelenk, nahm die Stopfen vom Tuschepulver, strich über den Elfenbeinglätter, und plötzlich sah er seinen Lehrer. »Gelehrsamkeit ist
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