Der siebente Sohn
Schraubklemme heraus. Das Bein aber lag nicht unter dem Mühlstein und war nicht zerquetscht worden.
Die Luft war angefüllt von dem Krachen von Stein auf Stein, von den lauten, tiefkehligen Schreien der Männer, die vom Entsetzen überrascht wurden, vor allem aber von dem durchdringenden Schmerzensschrei des Jungen.
Bevor ein anderer die Stelle erreicht hatte, hatte Geschichtentauscher bereits gesehen, daß Alvins beide Beine nicht unter dem Stein lagen. Alvin versuchte sich aufzusetzen und seine Verletzung zu betrachten. Entweder war ihr Anblick oder der Schmerz zuviel, jedenfalls verlor er das Bewußtsein. Da hatte Alvins Vater ihn erreicht. Er hatte zwar nicht am nächsten gestanden, hatte aber schneller reagiert als Alvins Brüder. Geschichtentauscher versuchte ihn zu beruhigen, denn so, wie die Knochen den Besenstiel griffen, sah das Bein überhaupt nicht gebrochen aus. Miller hob seinen Sohn auf, doch das Bein hing fest. Selbst in seiner Ohnmacht rang der Schmerz dem Jungen ein grausames Stöhnen ab. Measure nahm sich schließlich soweit zusammen, um an dem Bein zu reißen und es von dem Besenstiel zu befreien.
David hielt bereits eine Laterne, und als Miller den Jungen davontrug, wies David ihm den Weg. Measure und Calm wollten folgen, doch Geschichtentauscher rief ihnen zu: »Die Frauen werden David und eurem Vater helfen, aber irgend jemand muß noch hier nach dem Rechten sehen.«
»Ihr habt recht«, meinte Calm. »Vater wird sobald nicht zurückkommen.«
Die beiden jungen Männer benutzten die Stangen, um den Stein so weit zu heben, daß Geschichtentauscher den Besenstiel und die Seile hervorziehen konnte, die noch immer an die Pferde angeschirrt waren. Zu dritt räumten sie dann die ganze Ausrüstung aus der Mühle, brachten die Pferde in den Stall und verstauten Werkzeuge und Vorräte. Erst dann kehrte Geschichtentauscher ins Haus zurück, um festzustellen, daß Alvin Junior in seinem Bett schlief.
»Ich hoffe, es macht Euch nichts aus«, sagte Anne besorgt.
»Natürlich nicht«, erwiderte Geschichtentauscher.
Die anderen Mädchen und Cally räumten gerade die Teller vom Abendessen fort. In Geschichtentauschers altem Zimmer saßen Faith und Miller neben dem Bett, beide aschfahl und mit zusammengepreßten Lippen, neben Alvin mit seinem geschienten Bein.
David blieb neben der Tür stehen. »Es war ein sauberer Bruch«, flüsterte er Geschichtentauscher zu. »Aber die Schnitte in der Haut – wir befürchten eine Infektion. Er hat die ganze Haut am vorderen Schienbein verloren. Wir haben sie wieder angenäht so gut es ging. Ich weiß nicht, ob so ein Bruch jemals verheilen kann.«
Faith hob den Kopf. »Versteht Ihr etwas von Heilkunde, Geschichtentauscher?«
»Was ein Mann eben lernt, wenn er versucht zu tun, was er kann, unter jenen, die ebensowenig davon verstehen wie er.«
»Wie konnte das geschehen?« fragte Miller. »Warum ausgerechnet jetzt, wo ihm so oft nichts passiert ist?«
Er blickte zu Geschichtentauscher empor. »Ich hatte zu glauben begonnen, daß der Junge einen Beschützer hat.«
»Den hat er auch.«
»Dann hat der Beschützer ihn im Stich gelassen.«
»Er hat ihn nicht im Stich gelassen«, widersprach Geschichtentauscher. »Einen Augenblick lang, während der Stein stürzte, sah ich, wie er auseinanderbrach, breit genug, um ihn nicht zu berühren.«
»Wie der Dachbalken«, flüsterte Faith.
»Es ist aber kein Riß mehr darin«, meinte Miller.
»Nein«, sagte Geschichtentauscher. »Weil Alvin Junior es ihm verwehrt hat, sich zu spalten.«
»Soll das heißen, daß er ihn wieder zusammengefügt hat? Damit er ihn trifft und sein Bein zerschmettert?«
»Ich will damit sagen, daß er überhaupt nicht an sein Bein gedacht hat«, meinte Geschichtentauscher. »Nur an den Stein.«
»Oh, mein Junge, mein lieber Junge«, murmelte Faith gedankenvoll.
»Ist so etwas möglich?« fragte David. »Daß der Stein auseinanderbrach und wieder ganz wurde, und alles innerhalb von Sekunden?«
»Das muß so sein«, sagte Geschichtentauscher, »denn es ist geschehen.«
Faith beugte sich über ihren Sohn.
»Er ist wach«, sagte sein Vater.
»Ich werde etwas Rum für den Jungen holen«, sagte David. »Um den Schmerz zu lindern. Brustwehr wird welchen im Laden haben.«
»Nein«, murmelte Alvin.
»Der Junge sagt nein«, erklärte Geschichtentauscher.
»Was weiß er schon, da er so unter Schmerz steht?«
»Er muß bei klarem Verstand bleiben, wenn er kann«, erklärte Geschichtentauscher.
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