Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
Herde Ochsen, Hakul«, sagte Merege von irgendwoher.
Awin seufzte. »Gut, wir bleiben, wo wir sind. Dieser Ort ist so gut wie jeder andere.« Er suchte sich einen Platz im Laub und versuchte, einzuschlafen. Aber die Wölfe ließen ihn nicht. Sie waren auf dem Eis. Das war der Sichelsee. Sie sammelten sich und beobachteten das Lager, in dem die Hakul ahnungslos schliefen. Es gab keine Wachen. Awin wollte schreien, doch er konnte nicht. Die Wölfe umkreisten ihn. Da kam ein weiteres Rudel über den Hügel. Dutzende schwarze Wölfe. Sie verwandelten sich in Reiter und überquerten das blendend helle Eis. Awin wäre gern davongelaufen, aber seine Stiefel waren am Eis des Sees festgefroren. »Träume nicht«, sagte eine sanfte Stimme. Er drehte sich um. Da saß Senis auf einer nächtlichen Wiese. Ihre langen, schweren Zöpfe schimmerten weiß im Mondlicht. Das Meer rauschte irgendwo in der Ferne. »Was hast du gesehen, Seher?«, fragte Senis. Awin beschrieb ihr die Wölfe am Sichelsee und die Reiter. »Tengwil scheint dich zu mögen. Sie schickt dir klare Bilder.«
»Ich muss sie warnen, das Lager ist in Gefahr.«
Senis zuckte mit den Achseln. »Sie haben Wachen. Lass dich nicht ablenken, Seher.«
Awin versuchte, sich zu sammeln. »Wie bin ich hierhergekommen? Ist das ein Traum?«
»Ich würde dich deinen Träumen überlassen, junger Seher, wenn du nicht so verzweifelt wenig Zeit hättest. Es sind Feinde in deiner Nähe. Und eine große Aufgabe liegt vor dir. Wenn du scheiterst …«
»Das Ende der Welt, hat Kluwe gesagt. Hilfst du uns?«
Senis lächelte plötzlich. »Der alte Kluwe lebt noch? Sieh an.« Dann wurde sie wieder ernst. »Meine Zeit ist schon so lange um, und doch nimmt sie kein Ende.« Sie hielt kurz inne, schien nachzudenken, dann sagte sie: »Nein, ich kann euch nicht helfen.«
»Aber warum bin ich dann hier, ehrwürdige Senis?«
»Das ist eine gute Frage, Seher, aber du solltest bessere stellen.«
Awin dachte nach. Er spürte plötzlich ein wachsendes Gewicht. Ging der Traum etwa schon zu Ende? Er stemmte sich gegen den Sog, der ihn von der Wiese fortreißen wollte. Eine bessere Frage? Das war leicht: »Slahan. Wie kann ich sie besiegen?«
»Gar nicht. Aber das weißt du doch schon.«
Awin riss die Augen auf. Fahlgrau zeigte sich der Morgenhimmel über den kahlen Birken. Eine dunkle Gestalt beugte sich über ihn. »Wenn du die Rote Flechte willst, sollten wir bald aufbrechen.« Es war Mahuk Raschtar.
Awin setzte sich auf und warf dem Ussar einen finsteren Blick zu. »Einen Seher sollte man nicht wecken, wenn die Not es nicht erfordert«, sagte er schlecht gelaunt.
Mahuk erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln. »Du hast gefragt«, sagte er und ging davon. Er drehte sich noch einmal um. »Ich warte auf dich am Bach.«
Eine dünne Schicht Raureif hatte sich über das Laub gelegt. Awin war steif gefroren. Er stand auf und schüttelte seine Glieder.
»Du willst doch nicht etwa allein mit diesem Verrückten gehen?«, fragte Tuge besorgt.
»Wieso allein?«, erwiderte Awin verständnislos.
»Er sagte, ihr müsstet allein gehen. Wir anderen sollen hier warten.«
»Das hat er gesagt?«, fragte Awin. Er erspähte Merege, die im Laub saß und das Gesicht gen Himmel wandte. Er folgte ihrem Blick. Krähen in großer Zahl kreisten über dem Wäldchen.
»Sie sind seit dem Morgen dort oben. Wollen wir hoffen,
dass Slahan glaubt, sie kreisen nur über Aas«, meinte der Bogner.
Slahan! Awin entschuldigte sich bei Tuge und stapfte durch das Laub zu Merege. Er erzählte ihr leise von dem Traum.
»Und Senis hat gesagt, dass du sie nicht besiegen kannst, Seher?«, fragte Merege. Ihre Haut wirkte an diesem Morgen besonders blass. Und als Awin nickte, sagte sie ganz ruhig: »Dann ist es also an mir …«
Sie sagte es so bedacht und unaufgeregt, dass es Awin mit einem Mal als die natürlichste Sache der Welt erschien. Natürlich. Merege würde Slahan besiegen. Hatte er das nicht schon immer gewusst? Aber warum war er dann überhaupt hier?
Merege räusperte sich. »Hat meine Ahnmutter auch gesagt, wie ich sie besiegen kann?«
Awin öffnete den Mund zu einer Antwort. Aber er wusste keine. Schließlich meinte er unsicher: »Vielleicht wieder so wie in Uos Mund?«
»Da habe ich sie nur vertrieben, aber doch nicht für immer besiegt«, sagte Merege nachdenklich.
»Aber du bist viel stärker geworden, das hast du selbst gesagt«, hielt Awin ihr entgegen.
»Und wie kommen wir in die Festung? Wie
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