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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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in die Kiste gelegt hätte, in das kühle Schmelzwasser, das immer noch auf dem Boden schwamm, sie hätten mich gefunden. Es nützte nichts, mit den Tanten Versteck zu spielen.
    »Christian? Christian! Was machst du da unten?«
    Ich schaute durch die Luke hinauf und sah vier verschrumpelte Gesichter auf mich hinunterschauen.
    »Hallo«, sagte ich. »Seid ihr das?«
    »Hast du Geheimnisse vor uns?«
    »Ich räume auf.«
    »Was für ein Quatsch. Augenblicklich kommst du her!«
    Ich kletterte die steile Leiter hinauf, und das letzte Stück zogen und zerrten die Tanten an mir, als wäre ich unfreiwillig in ein Loch im Boden gefallen. Als ginge es jetzt um Leben und Tod. Es stellte sich heraus, dass Tante Soffen die Konservendose gefunden hatte. Sie hielt sie mit beiden Händen fest.
    »Was ist das für eine vornehme Dose?«, fragte sie.
    »Eine Fischdose.«
    »Eine was?«
    »Eine Fischdose!«
    »Da ist aber gar kein Fisch drin.«
    »Das ist eine Dose zum Fischen! Keine Dose mit Fisch drin!«
    »Was sagst du? Fisch mit einer Dose drin?«
    »Eine Fischdose!«, schrie ich ihr ins Hörrohr.
    »Hängen deshalb Haken und Leine dran?«
    »Ja! Erst fischst du, dann legst du den Fisch in die Dose!«
    Die anderen Tanten standen gemütlich um uns herum.
    »Das müssen wir unbedingt ausprobieren«, sagte Tante Carlik.
    Allein der Gedanke, zusammen mit den Tanten auf dem Anleger zu stehen und mit der Dose zu angeln, war geradezu undenkbar. Es hätte uns jemand sehen können. Meine Tage auf Nesodden wären gezählt, wahrscheinlich auch die in der Stadt. Und das wäre vielleicht das Beste gewesen, wenn man es recht betrachtete. Nach viel Wenn und Aber wurden wir uns dann aber doch einig, stattdessen zum Fahnenmast zu gehen. Es war trotz allem ein Tag der Trauer, Vater hatte sich das Bein gebrochen, und deshalb war es am besten, Spiel und Spaß, wie zum Beispiel mit der Dose zu werfen, im kleinen Rahmen zu halten. Dort, an dem Fahnenmast, wollten wir ein Trockentraining absolvieren, das heißt, ich zeigte ihnen, wie es gemacht werden musste. Ich schwang das Vorfach acht Mal, ließ die Schnur los, und sie verschwand im Rhododendron, wo ein ganzer Schwarm von Hummeln aufflog, um dann mit lautem Krach im Karpfenteich zu landen. Die Tanten applaudierten und lachten.
    »Da findest du leider keinen Fisch mehr«, sagte Emilie.
    Dann waren sie an der Reihe. Tante Carlik zerschmetterte eine Vase auf der Terrasse. Tante Massa traf die Wäscheleine. Tante Emilie warf in die falsche Richtung. Schließlich hatte Tante Soffen ihre Feuerprobe. Sie legte ihr Hörrohr beiseite. Man braucht kein Hörrohr, um mit der Dose zu werfen. Ich hatte sowieso meine Zweifel, ob sie überhaupt das Vorfach sehen konnte, so gekrümmt, wie sie dort stand. Aber diese gebeugte Haltung sollte sich geradezu als Vorteil erweisen. Sie schwang nämlich den Haken in einem Kreis hinter dem Rücken, und auf mirakulöse Art und Weise bekam sie ihn mit einer Art teuflischer Unterschraubung nach oben gedreht. Das Vorfach stieg und stieg zwischen Möwen und Schäfchenwolken und landete zum Schluss auf dem Dach, wo es liegen blieb.
    »Das müssen wir häufiger machen«, sagte Tante Soffen und gab mir die Dose.
    Der Haken saß natürlich fest. Ich hatte das ganze Haus am Haken. Ich stellte mir vor, es näher heranziehen zu können, es einzuholen, das ganze Haus und alle Sommer, mit denen es gefüllt war. Doch das Haus rührte sich nicht. Es war eher das Haus, das mich zog. Ich musste hochklettern und den Haken holen, während die Tanten unten auf der Erde standen und die klapprige Leiter festhielten, die wir herausgeholt hatten.
    »Fall uns nur nicht runter!«, riefen sie. »Um Gottes willen, fall uns nur nicht runter!«
    Wie ich sie liebte! Von ganzem Herzen liebte ich sie! Sie stammten aus einer anderen Welt. Sie waren Botschafter einer verschwundenen Zeit, der des Essigs, der Jungfräulichkeit und der blassen Wangen. Ich bin unberührt von männlichen Händen, pflegte Tante Emilie zu sagen, und sie sagte es nicht mit einem Seufzer, sondern voller Triumph. Sie sagte es mit zwei Ausrufungszeichen. Sie hatte Stand gehalten! Tante Carlik war sich ihrer Sache nicht ganz so sicher, aber auch sie hatte heldenhaft den meisten Versuchen einer Invasion durch das feindliche, dreckige, unzivilisierte Heer namens Mannsvolk Stand gehalten. Tante Massa hatte zu diesem Thema nicht viel zu sagen. Ich kann mich ehrlich gesagt gar nicht erinnern, dass sie überhaupt jemals etwas gesagt hätte. Aber

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