Der Sommerfaenger
entgegen. Sie hatte ihr schönstes Kleid angezogen, war sorgfältig frisiert und trug ihre Lieblingshandtasche am Arm.
»Ich werde gleich abgeholt«, sagte sie und strahlte mich an.
»Wie schön.«
Ich nahm ihre Hände in meine. Sie waren kalt und mager, die Haut unglaublich zart.
»Wir werden ein Picknick veranstalten. Mein Mann hat sich freigenommen und die Kinder müssen heute nicht in die Schule.«
Dass Herr Sternberg mittlerweile über achtzig war und die Kinder, die zwischen fünfzig und sechzig sein mussten, ihre Mutter kaum noch besuchten, weil sie es nicht ertrugen, sie geistig verfallen zu sehen, hatte Frau Sternberg längst vergessen.
»Ich glaube«, sie klatschte voller Vorfreude in die Hände, »ich glaube, ich werde ihnen vorschlagen, ans Meer zu fahren. Ich habe schon so lange keine Möwen mehr schreien hören und ich würde so gern mal wieder einen Seeigel sehen. Mein Mann erfüllt mir jeden Wunsch, wissen Sie. Erst gestern noch hat er mir zum Namenstag eine Yacht geschenkt.«
Als ich angefangen hatte, hier zu arbeiten, hatte Frau Stein mir eines eingeschärft: Diskutiere niemals mit einem Demenzkranken über seine Erinnerungen. Folge ihm an den Punkt, zu dem er gerade zurückgegangen ist .
»Wollen Sie sich vorher nicht noch ein bisschen ausruhen?«, fragte ich. »Eine Fahrt ans Meer ist wahnsinnig anstrengend.«
Sie runzelte nachdenklich die Stirn.
»Da haben Sie recht, Kindchen. Tausende von Kilometern mit der Transsibirischen Eisenbahn und dann der beschwerliche Flug. Ein bisschen Ausruhen kann wirklich nicht schaden.«
»Kommen Sie. Ich begleite Sie nach oben.«
»Nicht nötig, Liebes. Das schaff ich schon.«
Sie drehte sich um und ging zum Fahrstuhl zurück. Ihre Bewegungen waren leichter als sonst, beinah beschwingt.
Das würde leider nicht so bleiben. Oft folgte nach einem Höhenflug, körperlich oder geistig, der Absturz, von dem sie sich immer schwerer erholte.
Es gab Tage, an denen im St . Marien alles außer Rand und Band geriet, doch an diesem Samstagnachmittag verlief das Leben hier undramatisch und entspannt, sodass ich mir für die einzelnen Bewohner Zeit nehmen konnte.
Sie liebten es, wenn man ihnen zuhörte und sie nicht unterbrach, zeigten gern ihre Fotoalben und erzählten von damals, während sie einem dünnen Tee, bittere Schokolade und brüchige Kekse anboten.
Als ich eine halbe Stunde später erneut nach Frau Sternberg sah, schlief sie friedlich, zugedeckt mit ihrer Wolldecke, die Schuhe noch an den Füßen. Ich betrachtete sie eine Weile und nahm mir vor, meine Großmutter zu besuchen, sobald dieser Albtraum vorüber war.
Wer wusste schon, wie lange sie mir noch blieb?
Auf dem Weg zur Treppe räumte ich die herumliegenden Gegenstände wieder in die an den Wänden angebrachten Körbe, in denen die Bewohner nach Herzenslust kramen konnten, wenn sie das Bedürfnis danach verspürten. Demenzkranke waren immerzu auf der Suche nach irgendwas und ließen es dann achtlos irgendwo liegen.
Die Körbe hatten sich bestens bewährt.
Ich hielt gerade zwei dicke Wollknäuel in der Hand, als mein Handy klingelte.
Es war zwar streng verboten, während der Dienstzeit Privatgespräche zu führen, doch die Schwestern und Pfleger ersparten sich eine Menge Stress, wenn sie sich untereinander übers Handy verständigten, deshalb ließ auch ich meines meistens an.
Ich warf einen Blick auf das Display.
Unbekannter Teilnehmer .
Yasar. Er rief grundsätzlich mit unterdrückter Nummer an.
»Ja?«
»Ich muss dich sehen.«
Die Wollknäuel fielen mir aus der Hand und rollten in unterschiedliche Richtungen davon. In meinen Ohren rauschte es und meine Knie fingen an zu zittern.
»Luke! Wo bist du?«
Unwillkürlich hatte ich geflüstert. Es war ein Wunder, dass überhaupt ein Ton aus meinem Mund kam.
»Können wir uns sehen?«
Seine Stimme fuhr mir unter die Haut und ließ mich nach Luft schnappen. Ich hatte sie so lange nicht gehört.
»Die Polizei sucht dich, Luke.«
Als wüsste er das nicht selbst. Was erzählte ich ihm denn da?
Ich hab dich vermisst. Du hast mir gefehlt. Ich hab jede verdammte Minute eines jeden dieser acht verdammten Tage an dich gedacht .
Doch das sagte ich ihm nicht. Das dachte ich bloß.
»Können wir uns treffen, Jette?«
Du hast mich verlassen. Ich hab um dich getrauert. Ich hab nach dir gesucht. Und jetzt tauchst du aus der Versenkung auf und fragst mich ganz locker, ob ich dich sehen will? Nein! Ich will dich nicht sehen. Ich will dir nicht
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