Der Streik
Ehre.“
Er sah sie an, als nähme es all seine Kraft in Anspruch, seinen Blick auf ihr Gesicht zu richten, sie weiter anzusehen, den Anblick zu ertragen. „Was willst du?“, fragte er.
„Liebling, es gäbe so viele Dinge, auf die du von selbst kommen könntest, wenn du wirklich wissen wolltest, was ich möchte. Wenn du mich zum Beispiel schon seit Monaten so offensichtlich meidest, werde ich dann nicht wissen wollen, warum?“
„Ich war sehr beschäftigt.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Eine Frau erwartet, das Wichtigste im Leben ihres Mannes zu sein. Es war mir damals, als du geschworen hast, allem anderen zu entsagen, nicht klar, dass Schmelzöfen davon ausgenommen sind.“
Sie kam näher heran, und mit einem amüsierten Lächeln, das sie beide zu verhöhnen schien, schlug sie ihre Arme um ihn.
Es war die rasche, instinktive und energische Gebärde eines jungen Bräutigams, der ungewollt mit einer Hure in Berührung kommt, mit der er ihre Arme von seinem Körper riss und sie beiseite stieß.
Er war schockiert, wie gelähmt von der Brutalität seiner eigenen Reaktion. Sie starrte ihn an, in ihrem Gesicht stand nun nackte Verwirrung, ohne Geheimnistuerei, Vorspiegelungen oder Schutz. Welche Berechnungen sie auch immer angestellt hatte, das hatte sie nicht erwartet.
„Es tut mir leid, Lillian …“, sagte er mit leiser Stimme, einer ehrlichen und gequälten Stimme.
Sie antwortete nicht.
„Es tut mir leid … Ich bin nur sehr müde“, fügte er mit lebloser Stimme hinzu; er war betroffen von der dreifachen Lüge, deren einer Teil eine Untreue war, die er nicht ertragen konnte, sich einzugestehen; es war nicht die Untreue gegenüber Lillian.
Sie lachte kurz auf. „Nun, wenn das die Wirkung ist, die deine Arbeit auf dich hat, kann ich es ja nur gutheißen. Bitte vergib mir, ich habe nur versucht, meine Pflicht zu erfüllen. Ich dachte, du wärest ein Lüstling, der sich niemals über die Instinkte eines Tieres in der Gosse erheben würde. Ich bin keines von den Flittchen, die dorthin gehören.“ Trocken und abwesend, ohne zu denken warf sie ihm die Worte hin. Sie stand vor einem Fragezeichen und überschlug in Gedanken jede mögliche Antwort.
Es war ihr letzter Satz, der ihn bewog, sie plötzlich anzusehen, schlicht, offen, nicht mehr wie jemand, der sich verteidigen muss. „Lillian, für welches Ziel lebst du?“, fragte er.
„Was für eine plumpe Frage! Kein aufgeklärter Mensch würde sie je stellen.“
„Was ist es dann, was aufgeklärte Menschen mit ihrem Leben anfangen?“
„Vielleicht versuchen sie gar nicht, etwas anzufangen. Das ist ihre Aufgeklärtheit.“
„Was tun sie mit ihrer Zeit?“
„Sie verwenden sie sicher nicht dazu, Abflussrohre herzustellen.“
„Kannst du mir erklären, warum du dich ständig darüber lustig machst? Ich weiß, dass du Abflussrohre verächtlich findest. Du hast das schon vor langer Zeit klargestellt. Deine Verachtung ist mir gleichgültig. Warum wiederholst du es immer wieder?“
Er fragte sich, warum sie das traf; er konnte nicht genau sagen, auf welche Weise, aber er wusste, dass es so war. Er fragte sich, warum er sich so sicher war, dass er damit das Richtige gesagt hatte.
Mit trockener Stimme sagte sie: „Was bezweckst du mit dieser plötzlichen Fragerei?“
Schlicht entgegnete er: „Ich möchte gerne wissen, ob es etwas gibt, das du wirklich willst. Wenn es etwas gibt, würde ich es dir gerne schenken, wenn ich kann.“
„Du würdest es gerne kaufen? Das ist alles, was du kannst – für Dinge bezahlen. Da kommst du glimpflich davon, nicht wahr? Nein, so leicht ist es nicht. Was ich will, ist nichts Materielles.“
„Was ist es?“
„Du.“
„Wie meinst du das, Lillian? Du meinst es nicht im vulgären Sinn.“
„Nein, nicht im vulgären Sinn.“
„Wie sonst?“
Sie war bereits an der Tür, sie drehte sich um, sie hob ihren Kopf, um ihn anzusehen, und lächelte kalt.
„Das würdest du nicht verstehen“, sagte sie und ging hinaus.
Was von seiner Qual blieb, war das Wissen, dass sie ihn nie würde verlassen wollen und dass er niemals das Recht haben würde, sie zu verlassen; der Gedanke, dass er ihr zumindest eine gewisse Zuneigung schuldete, Respekt für ein Gefühl, das er weder verstehen noch erwidern konnte; das Wissen, dass er für sie nichts aufbringen konnte außer Verachtung, eine seltsame, allumfassende, unsinnige Verachtung, die weder durch Mitleid noch durch Vorwürfe oder seine eigenen Bitten um
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