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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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Mooszottel und wachsige Blattklumpen ließen die üppige Vegetation aussehen, als sabberte sie; die viel zu vielen Gardinen, die in der verbrauchten Luft eines kleinen Zimmers hingen, machten denselben Eindruck. Der Geruch kam aus staubigen Ecken und von Räucherstäbchen, die auf silbernen Schälchen zu Füßen verrenkter orientalischer Gottheiten brannten. Ivy Starnes saß auf einem Kissen wie ein zusammengesackter Buddha. Ihr Mund war ein fester kleiner Halbmond, der launische Mund eines Kindes, das nach Lob verlangt – auf dem in die Breite gehenden blassen Gesicht einer Frau jenseits der Fünfzig. Ihre Augen waren zwei leblose Pfützen aus Wasser. Ihre Stimme hatte den gleichmäßigen, eintönigen Klang von Regen.
    „Ich kann die Art von Fragen, die Sie mir stellen, nicht beantworten, mein Kind. Das Forschungslabor? Die Ingenieure? Warum sollte ich mich an irgendetwas an ihnen erinnern? Mein Vater hat sich um derlei Dinge gekümmert, nicht ich. Mein Vater war ein schlechter Mann, dem nichts wichtig war außer dem Geschäft. Er hatte keine Zeit für Liebe, nur für Geld. Meine Brüder und ich lebten auf einer anderen Ebene. Unser Ziel war nicht, Gerätschaften herzustellen, sondern Gutes zu tun. Wir brachten einen großartigen neuen Plan in die Fabrik ein. Das war vor elf Jahren. Aber wir wurden von der Habgier, der Selbstsucht und der niederen animalischen Natur des Menschen geschlagen. Es war der ewige Konflikt zwischen Geist und Materie, zwischen Seele und Körper. Sie wollten ihrem Körper nicht entsagen, obwohl das alles war, was wir von ihnen verlangten. Ich erinnere mich nicht an einen einzigen dieser Männer. Ich will mich nicht erinnern. … Die Ingenieure? Ich glaube, sie waren es, mit denen die Hämophilie begann. … Ja, so habe ich es genannt: die Bluterkrankheit, das langsame Auslaufen, der Blutverlust, den man nicht aufhalten kann. Sie sind zuerst geflüchtet. Sie haben uns im Stich gelassen, einer nach dem anderen … Unser Plan? Wir haben einen noblen historischen Grundsatz in die Tat umgesetzt: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Jeder in der Fabrik, von der Putzfrau bis zum Präsidenten, erhielt den gleichen Lohn – das absolut erforderliche Minimum. Zweimal im Jahr trafen wir uns zu einer Vollversammlung, bei der jeder seinen Antrag auf das, was er seiner Meinung nach brauchte, präsentierte. Wir stimmten über jeden Antrag ab, und der Wille der Mehrheit legte den Bedarf und die Fähigkeit jedes Mitarbeiters fest. Der Gewinn der Fabrik wurde entsprechend aufgeteilt. Belohnung beruhte auf Bedarf und Bestrafung auf Fähigkeit. Jene, deren Bedarf als am höchsten eingestuft wurde, erhielten am meisten. Jene, die nicht so viel produziert hatten, wie sie laut dem Votum hätten produzieren können, wurden bestraft und mussten die Strafe mit unentgeltlichen Überstunden bezahlen. Das war unser Plan. Er basierte auf den Grundsätzen der Selbstlosigkeit. Er forderte von den Menschen, ihre Motivation nicht aus persönlicher Bereicherung zu ziehen, sondern aus der Liebe zu ihren Mitmenschen.“
    Dagny hörte, wie eine kalte, unerbittliche Stimme in ihrem Inneren sagte: Merke es dir, merke es dir gut, nicht oft kann man das Böse in Reinform sehen, sieh es dir an, präge es dir ein, und eines Tages wirst du die Worte finden, sein Wesen beim Namen zu nennen. … Sie hörte sie durch das Geschrei anderer Stimmen, die in roher Verzweiflung brüllten: Es ist nichts … ich habe es schon einmal gehört … ich höre es überall … es ist nichts als derselbe alte Unsinn … warum kann ich es nicht ertragen? … Ich ertrage es nicht … ich ertrage es nicht!
    „Was ist los mit Ihnen, mein Kind? Warum sind Sie auf einmal aufgesprungen? Warum zittern Sie? … Wie bitte? Sprechen Sie doch lauter, ich kann Sie nicht hören. … Wie der Plan funktionierte? Ich möchte nicht darüber sprechen. Die Dinge sind wirklich sehr hässlich geworden, von Jahr zu Jahr schlimmer. Er hat mich meinen Glauben an die Natur des Menschen gekostet. Nach vier Jahren endete ein Plan, der nicht mit den kalten Berechnungen des Verstandes, sondern mit purer Herzensliebe erdacht worden war, in einem schäbigen Chaos aus Polizisten, Anwälten und Konkursverfahren. Aber ich habe meinen Fehler erkannt, und ich habe mich davon befreit, ich bin fertig mit der Welt der Maschinen, der Industriellen und des Geldes, der Welt, die ein Sklave der Materie ist. Ich erlerne die Emanzipation des Geistes, wie sie in den

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