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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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lassen, hinter dem Tresen eines einfachen Lokals. Er trug seine weiße Kochjacke, als wäre sie ein Abendanzug. In seiner Art zu arbeiten lag das Können eines Fachmannes; seine Bewegungen waren leicht, intelligent und ökonomisch. Er hatte ein hageres Gesicht und graues Haar, dessen Farbton in das kalte Blau seiner Augen überging. Irgendwo hinter seinem höflichen, strengen Gesichtsausdruck konnte man einen feinen Humor erahnen, so schwach, dass er verschwand, wenn man versuchte ihn festzuhalten.
    Die beiden Arbeiter waren mit dem Essen fertig, bezahlten und gingen, wobei sie jeweils zehn Cent Trinkgeld zurückließen. Sie beobachtete den Mann, wie er rasch ihre Teller abräumte, die Zehncentstücke in die Tasche seiner weißen Jacke steckte und sorgfältig den Tresen abwischte. Dann drehte er sich zu ihr um und sah sie an. Es war ein unpersönlicher Blick, der nicht zu einem Gespräch einladen sollte; doch sie war überzeugt, dass er schon längst ihr New Yorker Kostüm, ihre hochhackigen Pumps und ihr Auftreten einer Frau, die keine Zeit zu verlieren hat, bemerkt hatte. Sein kalter, beobachtender Blick schien ihr zu sagen, dass er wusste, sie gehörte nicht hierher, und dass er darauf wartete, ihre Absicht herauszufinden.
    „Wie läuft das Geschäft?“, fragte Dagny.
    „Ziemlich schlecht. Nächste Woche schließen sie die Lennox Foundry, da werde ich wohl auch bald schließen und weiterziehen müssen.“ Seine Stimme war klar, unpersönlich und freundlich.
    „Wohin?“
    „Das habe ich noch nicht entschieden.“
    „Was in etwa ziehen Sie in Erwägung?“
    „Ich weiß nicht. Ich dachte daran, eine Werkstatt zu eröffnen, wenn ich in irgendeiner Stadt einen geeigneten Ort finde.“
    „Oh nein! Sie sind viel zu gut in Ihrem Beruf, um die Sparte zu wechseln. Sie sollten nichts anderes sein als Koch!“
    Sein Mund verzog sich zu einem seltsamen, fast unmerklichen Lächeln. „Nein?“, fragte er freundlich.
    „Nein! Wie würde Ihnen ein Job in New York gefallen?“ Erstaunt sah er sie an. „Ich meine es ernst. Ich kann Ihnen einen Job bei einer großen Eisenbahngesellschaft geben, als Leiter der Speisewagenabteilung.“
    „Darf ich fragen, warum ich das tun sollte?“
    Sie hielt den Hamburger in der weißen Papierserviette in die Höhe.
    „Das ist einer der Gründe.“
    „Vielen Dank. Was sind die anderen?“
    „Ich gehe nicht davon aus, dass Sie in einer Großstadt gelebt haben, sonst wüssten Sie, wie verdammt schwer es ist, kompetente Leute für einen Job zu finden, egal welchen.“
    „Ein wenig weiß ich davon.“
    „Ja? Also, was meinen Sie? Hätten Sie gerne einen Job in New York für zehntausend Dollar im Jahr?“
    „Nein.“
    Sie hatte sich von der Freude mitreißen lassen, einen fähigen Menschen gefunden zu haben und belohnen zu können. Ruhig und entgeistert sah sie ihn an. „Ich glaube nicht, dass Sie mich verstanden haben“, sagte sie.
    „Doch, das habe ich.“
    „Sie lehnen eine solche Gelegenheit ab?“
    „Ja.“
    „Aber warum?“
    „Das ist eine persönliche Angelegenheit.“
    „Warum wollen Sie so arbeiten, wenn Sie eine bessere Stelle haben könnten?“
    „Ich bin nicht auf der Suche nach einer besseren Stelle.“
    „Sie wollen keine Chance aufzusteigen und mehr Geld zu verdienen?“
    „Nein. Warum drängen Sie mich so?“
    „Weil ich es hasse, wenn Können verschwendet wird.“
    Langsam und eindringlich sagte er: „Ich auch.“
    Etwas an der Art, wie er das sagte, gab ihr das Gefühl, als verbände sie ein tiefes gemeinsames Empfinden. Es setzte die Regel außer Kraft, die ihr verbot, jemals um Hilfe zu rufen. „Ich habe es so satt!“ Sie erschrak über ihre eigene Stimme: Ungewollt hatte sie geschrien. „Ich sehne mich so nach dem Anblick eines Menschen, der das, was er tut, auch kann, egal, was er tut!“
    Sie drückte ihren Handrücken gegen die Augen, um zu versuchen, den Ausbruch einer Verzweiflung, die sie sich nicht hatte eingestehen wollen, zu unterdrücken. Sie hatte weder geahnt, wie groß sie war, noch wie wenig sie nach dieser langen Suche noch ertrug.
    „Es tut mir leid“, sagte er mit leiser Stimme. Es klang nicht wie eine Entschuldigung, sondern wie eine Zusicherung von Mitgefühl.
    Sie sah zu ihm auf. Er lächelte, und sie wusste, dass dieses Lächeln das Band zerreißen sollte, das auch er zwischen ihnen gefühlt hatte: Das Lächeln enthielt eine Spur von höflichem Spott. Er sagte: „Aber ich glaube nicht, dass Sie den langen Weg von New York

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