Der Streik
flüchtig entlang der Taggart-Gleise aufblitzten.
„Miss Taggart, es ist eigentlich nicht meine Aufgabe, Sie anzurufen, aber sonst will es niemand tun“, sagte diese Stimme; sie klang jung und allzu gelassen. „In ein, zwei Tagen wird es hier eine Katastrophe geben, wie man sie noch nicht gesehen hat, und dann werden sie es nicht mehr geheim halten können, bloß wird es dann zu spät sein, und vielleicht ist es jetzt schon zu spät.“
„Worum geht es denn? Wer sind Sie?“
„Einer Ihrer Angestellten in der Minnesota-Sektion, Miss Taggart. In ein, zwei Tagen werden von hier keine Züge mehr abfahren – und Sie wissen, was das auf dem Höhepunkt der Ernte bedeutet. Auf dem Höhepunkt der größten Ernte, die wir je hatten. Es werden keine Züge mehr abfahren, weil wir keine Waggons haben. Dieses Jahr sind uns die Güterwaggons für die Ernte nicht geschickt worden.“
„Was sagen Sie da?“ Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren unnatürlich und fremd, und es kam ihr vor, als vergingen zwischen den einzelnen Worten ganze Minuten.
„Die Waggons sind uns nicht geschickt worden. Fünfzehntausend hätten mittlerweile hier sein müssen. Soweit ich in erfahren konnte, haben wir nur etwa achttausend bekommen. Seit einer Woche rufe ich immer wieder in der Sektionsleitstelle an. Dort sagt man mir immer nur, ich soll mir keine Sorgen machen. Beim letzten Mal hat man mir gesagt, ich soll mich verdammt noch mal um meinen eigenen Kram kümmern. Jeder Schuppen, jeder Silo, jedes Lagerhaus, jede Garage und jeder Tanzsaal entlang der Gleise ist voller Weizen. In Sherman warten die Farmer mit Last- und Pferdewagen auf der Straße vor den Silos, die Schlange ist zwei Meilen lang. Am Bahnhof Lakewood ist der Vorplatz seit drei Tagen bis obenhin voll. Es heißt immer, das sei bloß vorübergehend, die Waggons würden kommen, und wir würden alles aufholen. Das werden wir nicht. Es kommen keine Waggons. Ich habe jeden angerufen, den ich anrufen konnte. Ich habe es an der Art erkannt, wie man mir geantwortet hat. Die wissen Bescheid, und nicht einer von ihnen will es zugeben. Sie haben Angst, Angst, sich zu rühren oder zu sprechen oder zu fragen oder zu antworten. Sie denken nur daran, wem die Schuld zugeschoben werden wird, wenn diese Ernte hier an den Bahnhöfen verfault – und nicht daran, wer sie vielleicht noch abtransportieren könnte. Vielleicht kann es jetzt niemand mehr. Vielleicht können Sie auch nichts mehr daran ändern. Aber ich dachte, Sie sind der einzige Mensch, den das jetzt noch interessiert, und jemand müsste es Ihnen sagen.“
„Ich …“ Sie zwang sich zu atmen. „Ich verstehe … Wer sind Sie?“
„Der Name würde auch nichts ändern. Wenn ich auflege, bin ich schon ein Fahnenflüchtiger. Ich will nicht hierbleiben und mit ansehen, wie es passiert. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Ihnen viel Glück, Miss Taggart.“
Sie hörte ein Klicken. „Danke“, sagte sie, obwohl die Leitung bereits tot war.
Als sie das Büro um sich herum zum nächsten Mal wahrnahm und sich gestattete, etwas zu empfinden, war es Mittag des folgenden Tages. Sie stand mitten im Raum, fuhr sich mit steifen, gespreizten Fingern durch die Haare, strich sie sich aus dem Gesicht – und fragte sich einen Augenblick lang, wo sie war und was das Unglaubliche war, das sich in den letzten zwanzig Stunden ereignet hatte. Was sie empfand, war Entsetzen, und sie wusste, dass sie es vom ersten Satz an empfunden hatte, den der Mann am Telefon gesagt hatte, nur war in jenem Augenblick keine Zeit gewesen, es wahrzunehmen.
Aus den letzten zwanzig Stunden war ihr kaum etwas in Erinnerung geblieben, nur unzusammenhängende Fetzen, verknüpft durch die eine Konstante, die das alles ermöglicht hatte: die weichen, schlaffen Gesichter der Männer, die um jeden Preis vor sich selbst verbergen wollten, dass sie die Antworten auf Dagnys Fragen kannten.
Von dem Augenblick an, in dem sie erfuhr, dass der Leiter des Waggonparks seit einer Woche nicht mehr in der Stadt war und keine Adresse hinterlassen hatte, unter der man ihn erreichen konnte, wusste sie, dass der Bericht des Mannes aus Minnesota den Tatsachen entsprach. Hinzu kamen die Mienen der Angestellten der Abteilung Waggonpark, die den Bericht weder bestätigen noch dementieren wollten, sondern ihr immer wieder neue Papiere, Anordnungen, Formulare und Karteikarten vorlegten, auf denen zwar Wörter in englischer Sprache standen, jedoch ohne Verknüpfung mit verständlichen
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