Der Streik
Jahrhunderten ohne jegliche industrielle Entwicklung.“
„Weniger materielle Spielereien und eine strenge Disziplin der Entbehrung würden den Menschen guttun“, sagte Eugene Lawson eifrig. „Es wäre gut für sie.“
„Ach, zum Teufel, wollt ihr euch von dem Weibsbild da breitschlagen lassen, euch die reichste Nation der Welt durch die Lappen gehen zu lassen?“, sagte Cuffy Meigs und sprang auf. „Prima Zeitpunkt, um einen ganzen Kontinent aufzugeben – und wofür? Für einen mickrigen kleinen Bundesstaat, der sowieso ausgequetscht ist! Ich sage, zum Teufel mit Minnesota, aber haltet an eurem transkontinentalen Schleppnetz fest. Überall gibt es Ärger und Aufstände, da könnt ihr die Leute nur dann bei der Stange halten, wenn ihr Transportmittel habt – für den Truppentransport –, wenn ihr eure Soldaten so stationiert, dass sie in ein paar Tagen an jedem Punkt des Kontinents sein können. Das ist nicht der rechte Zeitpunkt für Streichungen. Lasst euch bloß nicht ins Bockshorn jagen von dem Geschwätz. Ihr habt das Land in der Tasche. Sorgt dafür, dass es da bleibt.“
„Auf lange Sicht …“, setzte Wesley Mouch unsicher an.
„Auf lange Sicht sind wir alle tot!“, fuhr Cuffy Meigs ihn an. Rastlos ging er auf und ab. „Streichungen, so ein Quatsch! In Kalifornien und Oregon und anderswo ist noch reichlich zu holen. Woran ich gedacht habe, ist, wir sollten über eine Expansion nachdenken. So, wie die Dinge liegen, gibt es niemanden, der uns aufhalten kann, wir müssen nur zugreifen – Mexiko und vielleicht Kanada, das müsste ein Kinderspiel sein.“
Da sah sie die Antwort; sie sah die geheime Prämisse hinter ihren Worten. Trotz aller lärmenden Hingabe an das Zeitalter der Wissenschaft, trotz ihres krampfhaft technologischen Jargons, ihrer Zyklotrone, ihrer Schallstrahlen wurden diese Männer nicht von der Vision einer Industrielandschaft angetrieben, sondern von der jener Lebensweise, die von den Industriellen hinweggefegt worden war – der Vision eines fetten, ungewaschenen Radschas in Indien, der mit leerem Blick phlegmatisch und stumpf aus trägen Fleischmassen herausstarrt und nichts anderes zu tun hat, als mit kostbaren Juwelen zu spielen und ab und an ein Messer in den Leib eines ausgehungerten, von seiner mühseligen Arbeit betäubten, bakterienzerfressenen Geschöpfes zu stoßen, um in den Besitz einiger weniger Körner vom Reis des Geschöpfes zu kommen, und dasselbe dann mit Millionen solcher Geschöpfe zu machen, bis die Reiskörner sich zu Juwelen summieren.
Sie hatte gedacht, industrielle Produktion sei ein Wert, der von niemandem infrage gestellt werden dürfe; sie hatte gedacht, in der Gier dieser Männer danach, die Fabriken anderer zu beschlagnahmen, zeige sich, dass sie um deren Wert wussten. Sie, ein Kind der industriellen Revolution, hätte nicht für möglich gehalten – hatte es ebenso vergessen wie die Märchen der Astrologie und Alchemie –, was diese Männer in ihren verborgenen, verstohlenen Seelen wussten, nicht kraft des Denkens, sondern kraft des unsäglichen Morasts, den sie ihre Instinkte und Gefühle nannten: Solange Menschen ums Überleben kämpfen, werden sie niemals so wenig produzieren, dass der Mann mit der Keule ihnen nicht einen Teil davon abnehmen könnte, vorausgesetzt, Millionen sind bereit, sich dem zu unterwerfen; je härter sie arbeiten und je weniger sie dadurch verdienen, desto unterwürfiger ihr Geist; Menschen, die davon leben, dass sie eine Schalttafel bedienen, sind nicht so leicht zu beherrschen, aber Menschen, die mit nackten Fingern den Boden umgraben, schon; die Feudalherrscher brauchten keine modernen Fabriken, um sich aus juwelenbesetzten Pokalen um den Verstand zu saufen, und die Radschas des Volksstaats Indien ebenso wenig.
Sie sah, was sie wollten und wohin ihre „Instinkte“, die sie selbst unerklärlich nannten, sie führten. Sie sah, dass Eugene Lawson, der Philanthrop, sich an der Aussicht auf hungernde Menschen freute und Dr. Ferris, der Wissenschaftler, von dem Tag träumte, an dem die Menschen zum Handpflug zurückkehren würden.
Auf diese Erkenntnis konnte sie nur mit Ungläubigkeit und Gleichgültigkeit reagieren: mit Ungläubigkeit, weil sie nicht begriff, was Menschen in einen solchen Zustand versetzte, und mit Gleichgültigkeit, weil sie diejenigen, die diesen Zustand erreicht hatten, nicht mehr als Menschen betrachten konnte. Die Männer redeten weiter, doch Dagny war unfähig zu sprechen oder zuzuhören.
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