Der Streik
Sie ertappte sich dabei, dass sie nur noch nach Hause und schlafen wollte.
„Miss Taggart“, hörte sie eine höfliche, vernünftige, schwach nervöse Stimme. Sie riss den Kopf hoch und erblickte einen Kellner in respektvoller Haltung. „Der stellvertretende Leiter des Taggart Terminals ist am Telefon und möchte Sie sofort sprechen. Er sagt, es sei ein Notfall.“
Es war eine Erleichterung, aufzuspringen und diesen Raum zu verlassen, selbst wenn es irgendeiner neuerlichen Katastrophe wegen war. Es war eine Erleichterung, die Stimme des stellvertretenden Terminalleiters zu hören, auch wenn er sagte: „Die Stellwerkanlage ist ausgefallen, Miss Taggart. Die Signale sind tot. Acht einfahrende und sechs ausfahrende Züge sitzen fest. Sie können weder in die Tunnel ein- noch aus den Tunneln ausfahren, wir können den Chefingenieur nicht finden, wir können die Störungsquelle nicht lokalisieren, wir haben keinen Kupferdraht für Reparaturen, wir wissen nicht, was wir tun sollen, wir …“ „Ich bin gleich da“, sagte sie und legte auf.
Sie eilte zum Fahrstuhl, dann halb im Laufschritt durch die imposante Lobby des Wayne-Falkland und spürte, wie sie angesichts der Aussicht, handeln zu müssen, wieder lebendig wurde.
Taxis waren neuerdings rar, und auf das Pfeifen des Hotelportiers kam keines. Eilig machte sie sich zu Fuß auf den Weg, vergaß dabei ganz, welche Kleidung sie trug, und fragte sich, warum der Wind sich so kalt und so intim dicht an der Haut anfühlte.
In Gedanken bereits im Terminal, sah sie zu ihrer Verblüffung unvermittelt einen schönen Anblick: die schlanke Gestalt einer Frau, die auf sie zueilte. Der Lichtstrahl einer Straßenlaterne strich über ihr glänzendes Haar, ihre nackten Arme, das geblähte Cape und die Flamme des Diamanten an ihrer Brust, und den Hintergrund bildeten der lange, menschenleere Korridor einer Innenstadtstraße und die durch vereinzelte kleine Lichtquadrate markierten Wolkenkratzer. Die Erkenntnis, dass sie sich selbst in einem Spiegel im Schaufenster eines Blumenladens sah, kam einen Augenblick zu spät: Sie hatte bereits den Zauber des Gesamtkontextes gespürt, zu dem dieses Bild und die Großstadt gehörten. Da überkam sie verzweifelte Einsamkeit, viel tiefer, als die menschenleere Straße es rechtfertigte – und Wut auf sich selbst wegen des grotesken Gegensatzes zwischen ihrem Erscheinungsbild und dem tatsächlichen Kontext, wie er von diesem Abend und der Zeit, in der sie lebte, vorgegeben war.
Sie sah ein Taxi um die Ecke biegen, winkte es heran, sprang hinein und knallte die Tür zu, als hoffte sie, ein wiedererwachtes Gefühl auf dem verlassenen Gehsteig vor dem Schaufenster eines Blumenladens zurücklassen zu können. Doch sie wusste – voller Selbstironie, Bitterkeit, Sehnsucht –, dass dieses Gefühl jene Vorfreude war, die sie vor ihrem ersten Ball und jene seltenen Male empfunden hatte, als sie gewollt hatte, dass die äußerliche Schönheit des Lebens zu seiner inneren Pracht passte. Was für ein Augenblick, um daran zu denken!, sagte sie sich spöttisch. Nicht jetzt!, rief sie sich ärgerlich zu. Doch eine verzweifelte innere Stimme fragte immer wieder leise zum Geräusch der Räder des Taxis: Du, die du geglaubt hast, dass du für dein Glück leben sollst, was ist dir jetzt davon geblieben? Was gewinnst du mit deinem Kampf? Ja, sag ehrlich: Was ist da für dich drin? Oder wirst du allmählich zu einer dieser elenden Altruistinnen, die auf diese Frage keine Antwort mehr wissen? … Nicht jetzt!, befahl sie sich, als der beleuchtete Eingang zum Taggart Terminal im Rechteck der Windschutzscheibe erschien.
Die Männer im Büro des Terminalleiters wirkten wie erloschene Signallichter – als wäre auch bei ihnen ein Stromkreis unterbrochen worden, sodass sie ohne Antriebskraft waren. Sie blickten ihr matt und passiv entgegen, als wäre es ihnen gleichgültig, ob sie sie stillgestellt ließ oder einen Schalter umlegte, um sie wieder in Bewegung zu setzen.
Der Terminalleiter war abwesend. Der Chefingenieur war nicht aufzufinden; zwei Stunden zuvor war er zuletzt im Terminal gesehen worden, seither nicht mehr. Die Initiative des stellvertretenden Leiters hatte sich darin erschöpft, dass er sie von sich aus angerufen hatte. Die anderen taten von sich aus gar nichts. Der Signaltechniker war ein jungenhafter Mittdreißiger, der immer wieder aggressiv sagte: „Aber das ist noch nie passiert, Miss Taggart! Die Stellwerkanlage ist noch nie ausgefallen.
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