Der Streik
Ma’am“, erwiderte er hölzern.
Sein Büro oben in einem unterirdischen Stellwerk war wie eine verglaste Veranda mit Blick auf das, was einst der schnellste, fruchtbarste und geordnetste Strom der Welt gewesen war. Er war geübt darin, den Verlauf von über neunzig Zügen pro Stunde zu planen und sie unterhalb der gläsernen Wände seines Büros und unter seinen Fingerspitzen sicher durch ein Labyrinth aus Gleisen und Weichen in die Tunnel hinein- und wieder hinausrollen zu sehen. Nun war der Strom versiegt, und er blickte zum ersten Mal hinaus in leere Dunkelheit.
Durch die offene Tür zum Relaisraum sah sie die Stellwerkmitarbeiter in grimmiger Untätigkeit umherstehen – die Männer, denen bei der Arbeit sonst nie ein Augenblick der Ruhe vergönnt war. Sie standen vor der Anlage, die aussah wie lange Reihen vertikaler Kupferfalten, wie Bücherregale, und die ebenso sehr wie diese Zeugnis der menschlichen Intelligenz war. Die Betätigung eines der kleinen Hebel, die wie Lesezeichen aus den Regalen ragten, setzte Tausende von Stromkreisläufen in Bewegung, stellte Tausende von Kontakten her und unterbrach ebenso viele andere, legte Dutzende von Schaltern um, um eine gewählte Strecke freizugeben, und gab Dutzende von Signalen, um sie zu beleuchten, sodass Fehler, Zufälle oder Widersprüche ausgeschlossen waren – ein gewaltiges, komplexes Gedankenkonstrukt, zusammengezogen in eine einzige Bewegung einer menschlichen Hand, mit der die Fahrt eines Zuges festgelegt und gesichert wurde, damit Hunderte von Zügen sicher passieren konnten, damit Tausende von Tonnen Metall und Menschenleben pfeilschnell dicht aneinander vorbeifahren konnten, durch nichts anderes geschützt als einen Gedanken: den Gedanken des Mannes, der die Hebel ersonnen hatte. Aber diese Leute – sie betrachtete das Gesicht ihres Signaltechnikers – glaubten, die Muskelkontraktion in einer Hand sei alles, was nötig sei, um den Verkehr in Bewegung zu halten, und nun standen sie untätig herum, und auf den großen Schalttafeln vor dem Stellwerkmeister waren die roten und grünen Lämpchen, die sonst hell leuchteten und die Fahrt von meilenweit entfernten Zügen anzeigten, nichts als Glasperlen – wie die Glasperlen, für die ein anderes Volk von Wilden einst die Insel Manhattan verkauft hatte.
„Rufen Sie alle Ihre ungelernten Arbeiter“, sagte sie zu dem stellvertretenden Terminalleiter, „die Hilfsarbeiter, Streckenläufer, die Reinigungskräfte, alle, die gerade im Terminal sind, und lassen Sie sie unverzüglich hierher kommen.“
„Hierher?“
„Hierher“, sagte sie und deutete auf die Gleise vor dem Stellwerk. „Rufen Sie auch alle Ihre Weichensteller. Rufen Sie im Lagerhaus an, und lassen Sie sich sämtliche Laternen bringen, deren sie habhaft werden können, Laternen jeder Art – Zugführerlaternen, Sturmlaternen, alle.“
„ Laternen , Miss Taggart?“
„Legen Sie los.“
„Ja, Ma’am.“
„Was haben wir vor, Miss Taggart?“, fragte der Fahrdienstleiter.
„Wir werden die Züge auf den Weg bringen, und zwar manuell.“
„Manuell?“ , wiederholte der Signaltechniker.
„Ja, Bruder! Warum sind Sie jetzt entsetzt?“ Sie konnte nicht widerstehen. „Der Mensch besteht doch nur aus Muskeln, nicht wahr? Wir gehen zurück – zurück dorthin, wo es keine Stellwerke gab, keine Signalmasten, keinen Strom – zurück zu der Zeit, als Zugsignale nicht aus Stahl und Draht bestanden, sondern Männer mit Laternen waren. Richtige Menschen, die als Laternenmasten dienen. Sie haben das doch lange genug verfochten – jetzt bekommen Sie, was Sie wollten. Ach, Sie haben gedacht, die Art des Werkzeugs würde Ihre Ideen bestimmen? Aber zufällig ist es genau anders herum – und jetzt werden Sie sehen, welche Art von Werkzeug Sie mit Ihren Ideen bestimmt haben!“
Doch sogar zurückzugehen erforderte einen Akt des Denkens, dachte sie, und ihr war das Paradoxe ihrer eigenen Position bewusst, als sie die lethargischen Gesichter der Männer um sich herum betrachtete.
„Wie sollen wir die Weichen stellen, Miss Taggart?“
„Mit der Hand.“
„Und die Signale?“
„Mit der Hand.“
„Wie denn?“
„Indem wir einen Mann mit einer Laterne an jeden Signalmast stellen.“
„Wie denn? Da ist nicht genügend Abstand.“
„Wir benutzen nur jedes zweite Gleis.“
„Woher wissen die Männer, wann sie die Weichen stellen müssen?“
„Durch schriftliche Anweisungen.“
„Hä?“
„Durch schriftliche Anweisungen –
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