Der Streik
reflektieren schienen. Inmitten der Sträflingskolonne der Geistlosen erblickte sie John Galt – John Galt in einem schmierigen Arbeitsanzug und mit aufgerollten Hemdsärmeln. Wie schwerelos stand er mit erhobenem Gesicht da und blickte sie an, als hätte er diesen Augenblick schon vor vielen Augenblicken gesehen.
„Was ist los, Miss Taggart?“
Das war die leise Stimme des Stellwerkmeisters, der mit irgendeinem Papier in der Hand neben ihr stand – und sie dachte, wie seltsam es doch war, aus einer Zeitspanne der Bewusstlosigkeit aufzutauchen, welche die Spanne schärfster Bewusstheit gewesen war, die sie je erfahren hatte, nur wusste sie nicht, wie lange sie gedauert hatte und wo sie war und warum. Sie war sich Galts Gesicht bewusst gewesen, hatte im Zug um seinen Mund, in den Flächen seiner Wangen gesehen, wie jene unerschütterliche heitere Gelassenheit, die ihm stets zu eigen gewesen war, zusammenbrach, während er sie in seinem Blick noch bewahrte, der den Zusammenbruch einräumte, der zugab, dass dieser Augenblick selbst für ihn zu viel war.
Sie wusste, dass sie weitersprach, denn die Männer um sie herum sahen aus, als ob sie zuhörten, doch sie hörte keinen Ton. Sie sprach weiter, als führte sie einen Befehl aus, den sie vor endlos langer Zeit unter Hypnose erhalten hatte, und wusste nur, dass die vollständige Bekanntgabe ihrer Anweisungen eine Form des Aufbegehrens gegen ihn war, auch ohne zu wissen oder zu hören, was sie selbst sagte.
Sie hatte das Gefühl, in feierlicher Stille dazustehen, während ihr Sehvermögen ihre einzige Fähigkeit und sein Gesicht deren einziger Gegenstand war, und der Anblick seines Gesichts war wie eine Rede, die sie als Druck unten an der Kehle spürte. Es kam ihr so logisch vor, dass er hier war, es erschien ihr so unerträglich einfach – sie hatte das Gefühl, als wäre das Schockierende nicht seine Gegenwart, sondern die Gegenwart der anderen an den Gleisen ihrer Eisenbahn, wo er hingehörte, die anderen jedoch nicht. Sie musste an jenen besonderen Augenblick denken, wenn sie im Zug saß und bei der Einfahrt in einen Tunnel plötzlich eine feierliche Anspannung verspürte, als zeigte dieser Tunnel ihr in aller Schlichtheit das Wesen ihrer Eisenbahn und ihres Lebens, die Einheit von Bewusstsein und Materie, den zu Stein gewordenen Ausdruck der Genialität eines Verstandes, der seinen Zielen körperliche Gestalt gegeben hatte; unvermittelt hatte sie Hoffnung verspürt, als verkörperte der Tunnel die Bedeutung all ihrer Werte, und zugleich eine geheime Erregung, als wartete unter der Erde ein namenloses Versprechen auf sie – es war richtig, dass sie ihm jetzt hier begegnete, er war die Bedeutung und das Versprechen gewesen. Sie sah nicht mehr seine Kleidung oder auf welche Stufe ihre Eisenbahn ihn herabgesetzt hatte – sie sah nur die Qualen der Monate, in denen er außerhalb ihrer Reichweite gewesen war und die sich nun verflüchtigten. In seinem Gesicht las sie das Eingeständnis dessen, was diese Monate ihn gekostet hatten, und die einzigen Worte, die sie hörte, waren die, die sie ihm nun zu sagen schien: Dies ist die Belohnung für alle meine Tage – und die Antwort, die er ihr zu geben schien: Und für meine.
Sie wusste, dass sie ihre Ansprache an die Fremden vor ihr beendet hatte, denn sie sah, dass der Stellwerkmeister vorgetreten war und etwas zu den Männern sagte, wobei er auf eine Liste in seiner Hand blickte. Dann ertappte sie sich dabei, dass sie, angetrieben von einer unwiderstehlichen Gewissheit, die Treppe hinabging, sich davonschlich, nicht auf die Bahnsteige und den Ausgang zu, sondern weiter hinein in die Dunkelheit der verlassenen Tunnel. Du wirst mir folgen, dachte sie nicht in Form von Worten, sondern in Form eines Gefühls, einer Anspannung ihrer Muskeln, in Form ihres Wunsches, etwas zu erlangen, von dem sie wusste, dass es nicht in ihrer Macht lag, von dem sie aber dennoch mit Sicherheit wusste, dass es erlangt werden würde, und zwar durch ihren Wunsch … nein, dachte sie, nicht durch ihren Wunsch, sondern weil dieser Wunsch ganz und gar berechtigt war. Du wirst mir folgen – es war weder eine Bitte noch ein Gebet oder eine Forderung, sondern die ruhige Feststellung einer Tatsache, und darin lagen die gesamte Kraft ihres Wissens und das gesamte Wissen, das sie im Lauf der Jahre erworben hatte. Du wirst mir folgen, wenn wir sind, was wir sind, du und ich, wenn wir leben, wenn die Welt existiert, wenn du um die Bedeutung dieses
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