Der stumme Tod
etwas mache nur die Pferde scheu. Wir sollen keine möglichen Verbindungen zum Fall Franck überprüfen, wir sollen ganz im Gegenteil möglichst schnell Beweise finden, dass es für das Verschwinden der Fastré ganz rationale, nachvollziehbare Erklärungen gibt.«
Rath schüttelte unwillig den Kopf. »Mein lieber Lange«, sagte er, »leider habe ich überhaupt nicht gehört, was Sie zuletzt gesagt haben. Bevor wir unsere Liste abarbeiten, rufe ich die Fahndung an, die sollen erst einmal herausfinden, welche Kinos derzeit überhaupt leer stehen. Die Überprüfung vor Ort kann dann immer noch das jeweilige Polizeirevier übernehmen, so aufwendig ist das doch wohl nicht, oder? Und wenn die Presse nichts davon erfährt, machen wir auch keine Pferde scheu.«
»Böhm wird uns den Kopf abreißen.«
»Machen Sie sich mal keine Sorgen um Ihren Kopf. Wenn einer abgerissen wird, dann meiner.«
Kapitel 37
Sie ist erschöpft, es hat keinen Zweck mehr. Er muss es beenden.
Wie viele Tage sie schon hier ist? Er weiß es nicht.
Wie spät es sein mag? Schon wieder Morgen? Mittag? Abend? Was spielt das für eine Rolle?
Die Zeit ist nicht mehr da, sie ist verbannt aus diesem Raum, in den kein Tageslicht dringt, der nicht abhängig ist vom Lauf der Sonne.
Wie wunderschön sie ist.
Er gibt ihr zum letzten Mal eine Spritze, und sie schaut ihn an mit einem Blick, in dem tiefe Dankbarkeit liegt. Sie hat sich nicht nur daran gewöhnt, sie sehnt sich geradezu danach. Bald wird sie ihre letzten Reserven freisetzen.
Seit er ihr die falsche Stimme genommen hat, ist so etwas wie Vertrautheit zwischen ihnen gewachsen. Den Schock hat sie schneller überwunden als die Erste, die er nur ein einziges Mal filmen konnte, bevor er sie erlösen musste.
Sie hat sich voll und ganz in ihr Schicksal gefügt, hat es akzeptiert, hat sich ihm ganz überlassen, als ahne sie, dass er sie in die Unsterblichkeit führt. Obwohl er nicht mehr mit ihr gesprochen hat seitdem. Kein einziges Wort. Er will sie nicht beschmutzen, die stummen engelgleichen Wesen, mit dem Klang seiner eigenen unvollkommenen Stimme.
Jetzt stellt er ihr das Glas hin, wie jedes Mal in den zurückliegenden Stunden. Dann schließt er die Tür und stellt sich hinter die Kamera. Sie weiß, dass er sie beobachtet durch die große Scheibe. Wahrscheinlich weiß sie auch, dass er sie filmt, obwohl das Surren der Kamera nicht zu ihr dringen kann, der Raum ist vollkommen schalldicht.
Aber sie schaut in die schwarze Scheibe, als würde sie wissen, dass er hinter dem dicken Glas steht. Dabei sieht sie nur sich selbst in ihrer vollkommenen Schönheit.
Wieder bekommt er wunderschöne Szenen, auch wenn ihr die Erschöpfung inzwischen anzusehen ist. Sie schaut direkt ins Objektiv, als ahne sie, wo sie hinschauen muss.
Eines dieser Bilder, die er nie vergessen wird, für die er keine Kamera braucht, weil sie für immer in sein Gedächtnis gebrannt sind, ihre Augen, ihr Blick ...
Ihr Blick an der Weihnachtstafel, wie sie schaut. Wie sie ihr Besteck beiseite legt und sich den Mund mit der Serviette abtupft, bevor sie spricht. Schon da hätte er es wissen müssen, in diesem Moment, in dem Mutter ihre Frage stellt, ihre Stimme warm von Fürsorge, ihre Augen so kalt.
Richard, ist dir nicht gut?
Mach dir keine Sorgen, Schatz, ein kleiner Schwächeanfall. Du hast mir doch eben erst eine Spritze gegeben, es wird schon wieder.
Du solltest dich vielleicht etwas hinlegen, sagt die warme Stimme unter den kalten Augen.
Aber nein ...
Soll ich dir noch eine Spritze geben?
Vater winkt ab, aber irgendwann geht es nicht mehr. Schweiß steht auf seiner Stirn, er beginnt, wirr zu reden. Noch vor dem Dessert bringen Albert und Mutter ihn auf das Sofa in der Bibliothek, wo es ruhig ist und dunkel. Sie müssen ihn beide stützen, so schwach ist er plötzlich, der mächtige, alte Mann mit dem biblischen Bart.
Als sie eine Viertelstunde später nach ihm sehen, regt er sich nicht mehr. Doktor Schlüter wird gerufen, aber der Medizinalrat kann nur noch den Tod seines alten Freundes feststellen. Richard Marquard, Herr über ein gewaltiges Finanz-Imperium, ist tot, gestorben am Weihnachtsabend des Jahres 1925, noch vor der Bescherung.
Dem Blick, den Doktor Schlüter seiner Mutter zuwirft, hat er keine Bedeutung beigemessen, hat ihn für Beileid gehalten, für Mitleid, und nicht für Liebe.
Er glaubt Mutter ihre Tränen. Weil er noch nicht weiß, dass sie verrückt geworden ist.
Als er wenige Tage später seine
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