Der stumme Tod
Insulin-Ampullen überprüft, wundert er sich, dass es nur noch so wenige sind, er hätte gedacht, noch länger hinzukommen. Aber er denkt sich nichts dabei, Doktor Schlüter wird ihm bald neue besorgen.
Der Medizinalrat ist nach dem Tod des Vaters immer öfter im Haus, um Trost zu spenden. Mutter ist dankbar dafür, aber es wird ihr schnell auch zu viel, allzu oft stört der Doktor die Zweisamkeit zwischen Mutter und Sohn.
Ihre Tränen versiegen schnell.
Sie ist glücklich, wenn sie mit ihrem Sohn alleine ist. Und er ist froh, dass er Mutter über den Tod ihres Mannes hinwegtrösten kann.
Dann stirbt auch Doktor Schlüter. Nur wenige Monate nach Vater, auf demselben Sofa.
Der Befund diesmal ist eindeutig: Tod durch Hypoglykämie. Der Medizinalrat litt seit einigen Jahren an einer leichten Altersdiabetes, die er mit kleinen Dosen Insulin bekämpfte, um weiterhin normal essen und trinken zu können. Niemand kann sich erklären, wie der erfahrene Mediziner das ebenso hilfreiche wie gefährliche Medikament falsch dosieren konnte, brauchte er doch immer nur kleine Mengen.
Wieder fehlen Insulinampullen im Schrank, und die Erinnerung an den Weihnachtsabend kommt mit Macht. Wieder steht er neben seinem toten Vater und sieht jetzt ganz deutlich, wie Doktor Schlüter die Spritze mit dem Stärkungsmittel nimmt und an der Injektionsnadel riecht. Sieht den kurzen Moment des Erschreckens, des Entsetzens in den Augen des Doktors, als sein Blick zu Mutter fliegt.
Er hat es gewusst! Der Doktor hat es gewusst! Aber dennoch hat er sie gedeckt.
Warum?
Nun liegt er selber dort, elend verreckt an zu viel Insulin. Und nur zwei Menschen, die die Wahrheit kennen.
Mutter und Sohn.
Und jetzt? Wie soll es weitergehen mit ihr? Mit einer Mörderin im Haus? Er kann sie doch nicht der Polizei übergeben, den einzigen Menschen, der ihm geblieben ist.
Warum hast du es getan?, fragt er sie nach der Beerdigung von Doktor Schlüter, als sie wieder zu Hause sind und allein.
Weil du doch mein Sohn bist, und weil ich dich liebe.
Sie lächelt selig, als sie das sagt. Endlich hat sie ihren Sohn für sich allein.
Vater hatte den Tod schon lange verdient, sagt sie. Weißt du nicht mehr, wie er dich gequält hat?
Und Doktor Schlüter?
Was wollen sie von mir, all diese Männer? Ich liebe doch nur dich! Komm zu mir, mein Junge! Niemand wird dich mehr quälen!
Du bist verrückt.
Mehr sagt er nicht, nur diese drei Worte. Sie lächelt selig.
Mein guter Junge, sagt sie und lächelt.
Und als er sie einsperrt, als sie von ihrem eigenen Sohn eingesperrt wird, lacht sie zum ersten Mal ihr Lachen, dieses unerträgliche kreischende Lachen, das das ganze Haus mit Wahnsinn tränkt. Und sitzt am Fenster und starrt stundenlang auf den See.
Der Blick durch die Scheibe wird starr. Sie hat die Grenze erreicht und greift zum Glas, trinkt, immer gieriger, doch es hilft nicht, diesmal nicht. Sie wirft das Glas gegen die Wand, als sie merkt, dass es nur Wasser enthält.
Kein Saft, nichts Süßes, dieses eine Mal nicht, das erste und das letzte Mal.
Ihr Blick. Das Erkennen. Das Begreifen. So viel Ausdruck in diesem Blick.
In diesem Moment spürt er eine Liebe für sie, wie er sie noch nie zuvor gespürt hat.
Es ist der beste Film, den er jemals gedreht hat.
Kapitel 38
Kaum war die Wagentür ins Schloss gefallen, machte der Hund Theater. Kirie stellte sich auf die Hinterbeine, stemmte ihre
Vorderpfoten gegen die Beifahrertür und bellte die Scheibe an, die sofort beschlug. Auch als Rath die Tür wieder öffnete, hörte das aufgeregte Bellen nicht auf, doch jetzt wedelte der Hund dazu mit dem Schwanz, sprang aufgeregt auf dem Lederpolster hin und her. Rath bekam das Halsband kaum zu fassen, um ihn wieder anzuleinen.
»Na gut, dann kommst du eben mit«, sagte er. »Aber benimm dich! Nicht dass du mir auf einen fremden Teppich pinkelst!«
Aber so weit sollten sie gar nicht kommen. Bevor sie zum Hinterhaus durchgingen, klingelte Rath beim Hauswart. Konnte nicht schaden, ein paar Informationen über den Mieter einzusammeln, bevor man ihn besuchte. Es dauerte einen Moment, bis Hund und Kommissar jemanden heranschlurfen hörten. Eine Frau in einer fleckigen Schürze öffnete die Tür und schaute misstrauisch, erst auf den Hund, dann auf ihn. Ihr Gesicht war klar in waagerecht und senkrecht gegliedert: die Nase ein schmaler Strich, darunter dünne, zusammengekniffene Lippen.
»Wennse wejen der Wohnung kommen - mit den Köter da könnense det jleich
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