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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Liste mit der Telefondirektdurchwahl. Bankname, Name, Telefonnummer. Ganz einfach. Und? Was hieß dies? Es gab eine weitere Liste, mit den » Filialen« dieser Banken in Moskau, die nichts anderes waren als einzelne, angemietete Zimmer im Hotel Metropol. Direkt am Roten Platz, mitten in Moskau, nicht weit vom berühmten Bolschoi-Theater. Julius hatte Helen von diesem Hotel erzählt. Bankname, Name der Person, Zimmernummer, Durchwahl. Ein Hotel voller winziger Bankfilialen.
    Zu einigen Vertretern hatten die Mitarbeiter der Stasi besonders intensive Kontakte. Noch einmal fand Helen den Hinweis auf den IM ohne Namen, der zur Girozentrale der Deutschen Aufbau in Frankfurt Zugang hatte. Und mehrmals stieß sie auf Nora. Nora hatte wirklich sehr intensive Kontakte.
    Ihre Aufgabe bei der » operativen Bearbeitung einiger Vertreter westdeutscher Banken«, von denen » Informationen abgeschöpft« werden sollten, war das Ausspionieren, insbesondere inwieweit diese Vertreter in » Gesprächen mit Bürgern die Konvergenztheorie« stark machten und das » Unterstreichen des gemeinsamen Deutschen«. Übersetzt hieß das: Besonders interessiert war man an Personen, die die deutsche Wiedervereinigung anstrebten.
    Helen wurde blass. Nach Mata Haris Logik hieß das: An Julius war man besonders interessiert. Das Gelände, das sie hier betrat, schien ihr plötzlich viel zu groß, und es schien ihr auch gefährlich. Vielleicht war es nur ihre Fantasie; aber sie schreckte zurück vor der Realität der Menschen, von denen sie hier las. Vor ihren unbekannten Realitäten. Von denen niemand wissen sollte. Auch sie nicht. Viele von diesen Personen lebten noch.
    In älteren Papieren fand Helen einen weiteren Hinweis, der das Nachdenken über die Frage » Wer hat welche Interessen?« noch komplizierter machte. Helmut Kürschner, der Chef der Dresdner Convers, der 1977 Opfer eines linksextremen Terroranschlags geworden war, hatte im Jahr zuvor das » Kreditgeschäfts seines Lebens«, wie er es nannte, abgeschlossen, und zwar mit der Staatsbank der DDR , die damals als äußerst kreditwürdiger Partner gegolten hatte, über 600 Millionen Deutsche Mark. Der amerikanische Geheimdienst habe zu dieser Zeit die Kreditwürdigkeit der östlichen Staaten im Ganzen in Frage gestellt, behauptete Thiel. Thiel hielt die SED -Spitze über die ständig wechselnden Einschätzungen der Kreditwürdigkeit der Ostblockstaaten auf dem Laufenden. Diese Einschätzungen veränderten sich, fand Helen, je nachdem, wie der Wind nun gerade wehte. Oder nicht? Hatte die CIA damals nicht gewollt, dass die Bundesrepublik der DDR einen Kredit gewährte?
    Helen war müde. Sie hatte genug von der Spionage. Die Spionage wurde ihr zu abstrakt. Sie wollte nach Hause und für die Kinder etwas Gutes kochen. Ihr Lachen hören, ihre Sorgen. Sie stand auf und bat die Aufsicht, die Unterlagen für das nächste Mal beiseitezulegen. Sie schloss ihren Garderobenschrank auf, zog den Mantel an, fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter, verließ durch das Drehkreuz das Gebäude und lief gegen den ekelhaften Wind zum Alexanderplatz. Der Gedanke an Nora beschäftigte Helen. Nora war immerhin ein einzelner Mensch. Vielleicht lebte Nora noch? Vielleicht lebte sie hier? Nora. Helen fuhr mit der S-Bahn nach Hause und sah sich nach älteren Frauen um, die nach früherer DDR aussahen. Vielleicht hatte sie Karriere gemacht, nach der Wende? Mit ihrem Wissen? Wer war sie? Hatte sie Julius gekannt? Ihn » abgeschöpft«?
    8 Männlich-weiblich
    14. März 1987
    Lieber Julius,
    ich lese alles von Virginia Woolf, auch auf Englisch, was ich finden kann. Ihre Tagebücher sind noch nicht übersetzt worden, aber manche Passagen sind so grandios, dass ich sie auf meiner kleinen Reiseschreibmaschine abtippe, einfach so. Immer, wenn ich eine oder zwei Stunden so verbracht habe, bin ich so aufgeregt, dass ich aus dem Haus stürze und durch die Straßen laufe und mit mir selber rede. Ich bekomme so große Lust, selber über all das nachzudenken, wovon sie spricht, zum Beispiel über das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit und nicht nur über ihre Beziehungen untereinander und miteinander. Ich glaube, meine Arbeit werde ich über Die Wellen schreiben. Sie erfindet darin die Form des Romans ganz neu; natürlich hatte sie den Ehrgeiz, es James Joyce gleichzutun, aber aus einem genuin weiblichen Blickwinkel. Im Grunde macht sie sich – entschuldige bitte, dass mich das so freut – über die Männerwelt lustig. Ihre ganzen

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