Der tausendfältige Gedanke
sein zu müssen? Warum geben so viele, wo das Nehmen doch so leicht ist?
Ihr stellt Euch diese Fragen, weil Ihr nicht wisst, was Stärke ist. Was ist sie anderes als der Entschluss, sich keinen niederen Gelüsten zu überlassen, sondern sie im Namen seiner Brüder zu opfern? Ihr, Ikurei Conphas, kennt nur Schwäche, und da es Stärke erfordert, Schwäche anzuerkennen, nennt Ihr Eure Schwäche Stärke. Ihr verratet Eure Brüder. Ihr malt Euer Herz mit Schmeicheleien aus. Ihr, der Ihr weniger wert seid als jeder andere, sagt zu Euch: ›Ich bin ein Gott.‹«
Conphas’ Antwort war kaum mehr als ein Flüstern, doch sie hallte durch den ganzen Saal: »Nein…«
Scham – oder Wutrim, wie die Scylvendi sagten. Cnaiür hatte gedacht, sein Hass auf den Dûnyain sei grenzenlos und könne von nichts in den Schatten gestellt werden, doch die Scham, die unverzeihliche Erniedrigung, die den Saal nun erfüllte, nahm ihm den Groll. Einen Moment lang sah er den Kriegerpropheten statt des Dunyain und empfand Ehrfurcht vor ihm. Einen Moment lang betrachtete er das Lügengebäude dieses Mannes von innen.
»Eure Truppen«, fuhr Kellhus fort, »werden ihre Waffen ablegen. Ihr werdet Eure Zelte abbrechen, nach Jokhta ziehen und dort auf die Rückfahrt nach Nansur warten. Ihr seid kein Mann des Stoßzahns mehr, Ikurei Conphas.«
Der Oberbefehlshaber blinzelte fassungslos, als hätten ihn erst diese und nicht schon die vorangegangenen Worte beleidigt. Cnaiür begriff, dass Conphas – wie der Dûnyain gesagt hatte – tatsächlich an einem seelischen Mangel litt.
»Warum?«, fragte Conphas und fand wieder zu seiner alten, kräftigen Stimme zurück. »Warum sollte ich diesen Forderungen zustimmen?«
Kellhus erhob sich und kam auf ihn zu. »Weil ich Bescheid weiß«, sagte er und stieg vom Podium. Den Leuchtkreis der Kohlenbecken verlassen zu haben, hatte seine faszinierende Ausstrahlung nicht gemindert. Jedes Licht ließ ihn vorteilhaft erscheinen. »Ich weiß, dass der Kaiser Verträge mit den Heiden abgeschlossen hat… Ich weiß, dass Ihr den Heiligen Krieg verraten wollt, ehe Shimeh zurückerobert ist.«
Conphas schrumpfte vor dem Kriegerpropheten zusammen und wich zurück, bis er gegen Gläubige stieß, die ihn bei den Armen packten. Cnaiür erkannte einige davon – Gaidekki, Tuthorsa, Semper. In ihren Augen strahlte Hass, und in ihrer Gewissheit wirkten sie, als seien sie tausend Jahre alt.
»Und weil ich Euch«, fuhr Kellhus fort und baute sich dabei vor Conphas auf, »falls Ihr nicht einwilligt, häuten und vom Tor hängen lassen werde.« Seine Stimme klang so, dass das Wort ›häuten‹ Vorstellungen von rohem Fleisch heraufbeschwor.
Conphas sah tief erschrocken auf. Seine Unterlippe zitterte, dann brach er in lautloses Schluchzen aus, beherrschte sich kurz und begann erneut zu weinen. Cnaiür merkte, dass er die Hände unwillkürlich an die Brust gedrückt hatte. Warum raste sein Herz so?
»Lasst ihn los«, murmelte der Kriegerprophet, und Conphas floh nach draußen. Dabei verbarg er sein Gesicht und fuchtelte mit den Händen, als müsste er Steine abwehren.
Cnaiür betrachtete die Machenschaften des Dûnyain wieder von außen.
Die Verratsvorwürfe waren wahrscheinlich nur eine Erfindung. Was hätte der Kaiser gewonnen, wenn er seine uralten Feinde unterstützte? Alles war geplant gewesen, dachte Cnaiür. Jedes Wort, jeder Blick, jede Erkenntnis hatte einen Zweck verfolgt… Aber welchem Ziel dienten sie? Dazu, an Ikurei Conphas ein Exempel zu statuieren? Dazu, ihn zu beseitigen? Warum schnitt man ihm dann nicht einfach die Kehle durch?
Nein. Von den Hohen Herren besaß allein Ikurei Conphas, der berühmte Löwe vom Kiyuth, Charisma genug, um sich der Loyalität seiner Männer gewiss sein zu können. Kellhus duldete keine Konkurrenten, wollte aber auch nicht Gefahr laufen, dass die Überbleibsel des Heiligen Kriegs sich in einem mörderischen Konflikt verzehrten. Diesem Umstand allein hatte der Oberbefehlshaber sein Leben zu danken.
Kellhus hatte sich aus dem Saal zurückgezogen. Die Männer des Stoßzahns erhoben und streckten sich, riefen einander Bemerkungen zu, lachten und schüttelten den Kopf. Erneut bemerkte Cnaiür, dass er sie gewissermaßen doppelt sah: Die Inrithi begriffen sich als geschmiedet und umgeschmiedet und glaubten, je weniger Unreinheit sie umgebe, desto lauterer sei ihr Charakter. Cnaiür aber wusste es besser…
Die Trockenzeit war noch nicht vorbei und würde vielleicht nie enden.
Der
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