Der Todeskünstler: Thriller (German Edition)
Frau?«, sagte sie. »Das ist Ms. Watson von der Fürsorge. Du kennst doch Ms. Watson?«
Sarah nickte. »Theresa hat gesagt, sie ist das Böse in Person.«
Cathy musterte das kleine Mädchen mitleidig.
»Sarah, sieh mich an«, sagte sie sanft.
Sarah gehorchte.
»Du hast meine Karte«, sagte Cathy. »Und du rufst mich an, wenn du meine Hilfe brauchst.« Sie deutete mit einem Nicken zu Karen Watson. »Okay, Sarah?«
»Okay.«
Karen half Sarah beim Packen ihrer Kleider und Schuhe. Sie war wieder richtig nett. Sarah wusste warum: Es waren andere Leute anwesend, die Karen beobachteten. Sarah wusste, dass Karen wieder gemein werden würde, sobald sie allein waren.
Schließlich stiegen sie ins Auto und fuhren los, und wie nicht anders zu erwarten, musterte Karen Sarah mit wütenden Blicken. Sarah war es egal. Sie war todmüde.
»Wie konntest du das nur tun«, murmelte Karen. »Jetzt wirst du sehen, was passiert, wenn du dich nicht bei einer Pflegefamilie einfügen kannst.«
Sarah hatte keine Ahnung, wovon Karen redete. Und sie war zu traurig, um Angst zu haben.
Oh, Theresa, warum, warum, warum? Du hättest vorher mit mir reden sollen. Wir waren Schwestern. Jetzt bin ich wieder ganz allein.
Sie waren vor einem großen einstöckigen Gebäude angekommen, aus grauem Beton, umgeben von hohen Zäunen.
»Da wären wir«, sagte Karen. »Das ist ein Waisenhaus. Hier wirst du bleiben, bis ich es für richtig halte, dir eine neue Chance bei Pflegeeltern zu geben.«
Sie stiegen aus dem Wagen. Sarah folgte Karen in das Heim. Sie gingen durch einen langen Flur zu einem Empfangsschalter. Eine dünne, müde wirkende Frau Mitte vierzig erhob sich. Karen reichte ihr ein Formular.
»Sarah Langstrom«, sagte sie zu der Frau.
Die Frau las das Formular durch, warf einen Blick auf Sarah und nickte Karen zu.
»Okay.«
»Wir sehen uns später, Prinzessin«, sagte Karen, wandte sich um und ging davon.
»Hi, Sarah«, sagte die dünne Frau. »Ich bin Janet. Ich bringe dich jetzt erst mal zu Bett, und morgen früh zeige ich dir dann alles, einverstanden?«
Sarah nickte bloß.
Ist mir egal , dachte sie. Mir ist alles egal. Ich will nur schlafen.
Sarah folgte Janet durch den Gang und durch zwei verschlossene Türen, dann noch eine. Die Wände waren in Gefängnisgrün gestrichen, die Böden ausgetretenes graues Linoleum. Alles war trostlos und trist. Der Gang, den sie durchquerten, wurde rechts und links von Türen gesäumt. Vor einer der Türen blieb Janet stehen und öffnete sie umständlich und leise.
»Pssst«, sagte sie und legte einen Finger an die Lippen. »Die anderen schlafen.«
Janet ließ die Tür einen Spalt offen, damit sie das Licht ausdem Flur nutzen konnten. Sarah sah, dass sie sich in einem großen Zimmer befand, einigermaßen sauber, mit sechs doppelstöckigen Eisenbetten. In den Betten schliefen Mädchen verschiedenen Alters.
»Da«, flüsterte Janet und deutete auf eines der Betten. »Das untere ist deins. Toilette und Waschraum sind auf dem Gang. Musst du noch einmal?«
Sarah schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin nur müde.«
»Dann leg dich schlafen. Wir sehen uns morgen früh.«
Janet wartete, bis Sarah unter die Bettdecke geschlüpft war, bevor sie ging. Die Tür klickte leise, und dann war es dunkel. Sarah war froh. Sie hatte keine Angst vor der Dunkelheit, weil sie zurück war an der Stelle, wo sie
(nichts sein)
wollte.
Sie wollte nicht an Theresa denken oder an Dennis oder Blut oder Fremde oder an das Alleinsein. Sie wollte nur die Augen schließen und überall Schwarz sehen.
Sie war eben erst in einen erschöpften Schlaf gefallen, als sie von einer würgenden Hand an ihrem Hals geweckt wurde. Sie riss die Augen auf.
»Still!«, zischte eine Stimme.
Die Stimme gehörte einem Mädchen. Einem kräftigen Mädchen. Die Hand um Sarahs Hals war wie ein Schraubstock.
»Ich bin Kirsten«, sagte die Stimme. »Ich bin die Chefin hier, klar? Was ich sage, wird gemacht. Kapiert?«
Sie löste ihren Griff um Sarahs Hals. Sarah hustete.
»Warum?«, fragte sie, nachdem sie wieder Luft bekam.
»Warum was?«
»Warum muss ich machen, was du sagst?«
Eine Hand schoss aus der Dunkelheit und versetzte Sarah eine Ohrfeige. Der Schmerz war ein Schock.
»Weil ich die Stärkste bin. Wir reden morgen früh weiter.«
Der Schatten verschwand. Sarahs Wange brannte. Sie fühlte sich einsamer als je zuvor.
Ja, aber weißt du was?
Was?
Wenigstens bist du keine Heulsuse mehr.
Sarah spürte keine Trauer. Sie spürte
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