Der Tote vom Strand - Roman
Es war nur ein Zeichen gewesen, von einem ihr fremden Alphabet. Seltsam.
Und gleich darauf tauchte ein ebenso flüchtiges Bild von Hauptkommissar Van Veeteren auf, wie er hinter seinem Schreibtisch saß und sie ansah. Oder sie eher mit seinen Blicken durchbohrte. Eigentümlich, dachte sie. Bin ich nicht zu jung für Gehirnblutungen?
»Ich verstehe«, sagte sie und holte tief Atem. »Lebt er noch hier in der Stadt, dieser Arzt?«
»DeHaavelaar? Sicher. Er lebt noch, und er lebt hier in der Stadt. Geht auf die achtzig zu, wenn ich mich nicht irre, aber stolziert weiterhin in der Gegend herum und streut zynische Bemerkungen um sich. Warum fragst du?«
»Ich weiß nicht«, gestand Moreno. »War nur so eine kurze Eingebung.«
Selma Perhovens betrachtete sie für einen Moment überrascht. Dann schlug sie mit der Handfläche auf den Block.
»Ich möchte über diese Sache schreiben, hast du etwas dagegen?«
Moreno schüttelte den Kopf.
»Ach übrigens«, fiel es Selma Perhovens jetzt ein. »Ich glaube, wir hatten eine Abmachung. Dieser Knabe vom Strand, wie hieß der doch noch gleich?«
»Ja, sicher«, sagte Moreno. »Van Rippe. Er hieß Tim Van Rippe.«
Selma Perhovens runzelte wieder die Stirn.
»Van Rippe? Kommt mir irgendwie bekannt vor. Bist du dir sicher?«
»Glaubst du, ich nenne der Presse einen falschen Namen für ein Mordopfer?«, fragte Moreno.
»Tschuldigung«, sagte Selma Perhovens. »Hatte vergessen, dass ich hier nicht der lokalen Bullenmafia gegenübersitze. Was hältst du übrigens von einem kleinen Mittagessen? Vielleicht kommen wir auf einen klugen Gedanken, wenn wir ein paar Proteine einwerfen?«
Moreno schaute auf die Uhr und nickte.
»Der Versuch kann nicht schaden«, sagte sie.
Der ehemalige Gemeindearzt Emil deHaavelaar wohnte im Riipweg, wie sich dann herausstellte. In einer großen Patriziervilla in den Dünen, wo er Ewa Moreno jedoch nicht empfangen wollte. Wenn es sich wirklich nur um eine Bagatelle handelte, wie sie behauptete. Möglicherweise wäre er bereit, später an diesem Nachmittag im Café Thurm ein paar Worte mit ihr zu wechseln, nachdem ihm bei seinem Zahnarzt ein wenig der Zahnstein entfernt worden war.
Gegen vier, wenn ihr das recht sei. Moreno sagte zu, beendete das Gespräch und wandte sich wieder Selma Perhovens und dem Essen zu.
»Bullenbeißer?«, fragte sie.
»Aristokrat«, sagte Selma Perhovens. »Der letzte, wenn wir ihm glauben wollen. Ich habe ihn vor zwei Jahren interviewt,
als sein Buch erschienen ist. Über seine vier Jahrzehnte als gemeindeeigener Äskulap, ja, so hieß es. Durch die Lupe des Äskulap. Unglaublicher Scheiß, ich musste es ja lesen. Fast schon Rassenbiologie. Lebt allein, mit einem Dienstmädchen und einer Haushälterin. Zwölf Zimmer und Tennisplatz, nein, er ist ganz einfach nicht mein Typ. Wie lange willst du übrigens hier bleiben? Bist du alles geklärt hast?«
Moreno zuckte mit den Schultern.
»Ich wollte morgen nach Hause fahren«, sagte sie. »Muss heute Abend nur noch mit dieser Vera Sauger reden. Falls sie wirklich auftaucht. Ich weiß nicht so recht, warum ich überhaupt in der Sache herumstochere. Aber ich kann nicht unbegrenzt in der Pension wohnen. Mein Gehalt erlaubt mir solche Ausschweifungen nicht. Nicht mal im Dombrowski.«
Selma verzog den Mund zu einem düsteren Clownslächeln.
»Wie komisch«, sagte sie. »Nein, wenn ich mir das richtig überlege, dann ist Geld auch meine größte unerwiderte Liebe. Betrügt mich dauernd, ist nie da, wenn ich es brauche. Du kannst bei mir schlafen, wenn du noch ein paar Tage bleiben willst. Ich habe eine Tochter von elf, aber keinen Typen, der stört, und du kannst ein eigenes Zimmer haben. Das meine ich wirklich ehrlich.«
»Danke«, sagte Moreno und spürte eine plötzlich auflodernde Sympathie für diese energische Journalistin. »Wir sehen ja morgen, wie die Lage sich entwickelt.«
Selma Perhovens gab ihr ihre Karte und schaute auf die Uhr. »Verdammt! Ich darf die Hengstprämierung in Moogensball nicht verpassen. Ich muss los!«
Als sie verschwunden war, blieb Moreno noch eine Weile am Tisch sitzen und überlegte, ob sie Vegesack anrufen sollte oder nicht. Nur, um einen Lagebericht zu geben.
Nach reiflicher Überlegung beschloss sie, damit bis zum Abend zu warten.
Doktor deHaavelaar bestellte einen Cognac und ein Glas Milch. Sie selber begnügte sich mit einem Cappuccino.
»Zum Ausgleich«, erklärte der Arzt, als der Kellner das Tablett brachte. »Man
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