Der Traum der Hebamme / Roman
Christians Sohn vorerst nicht erkannt wurde. Kettenhaube und Nasalhelm verbargen einen großen Teil des Gesichtes. Lukas wollte Marthes und Christians Sohn nicht auch noch in die wehrlose Lage bringen, in der er und Raimund sich jetzt notgedrungen befanden. Falls die Sache schiefging, musste Thomas fliehen können.
Sie schickten Karl voraus auf die Burg, um ihre heimlichen Verbündeten dort von der veränderten Lage zu informieren. Als Vorwand für einen Besuch beim Stallmeister hatte der Schmied schon ein paar Trensen gefertigt. Die Gezähe der Bergleute waren ihm heute nicht so wichtig.
Lukas und seine Begleiter warteten, bis Karl unbehelligt das Donatstor passierte, und sprachen dabei jeder für sich ein Gebet. Dann ritten sie Richtung Meißner Tor, Gerald voran, die beiden vermeintlichen Gefangenen in der Mitte.
Die Stadtbewohner, die an diesem sonnigen Junitag in den Gassen unterwegs waren, um an den Brot- und Fleischbänken einzukaufen oder einen der Handwerker im Nikolaiviertel aufzusuchen, verdrückten sich schnell in die Seitengassen, als sie den bewaffneten Trupp kommen sahen.
»Ist das nicht der Herr Lukas?«, hörte Lukas jemanden erschrocken von der Seite rufen. »Haben die ihn doch noch erwischt? Und was ist mit Marthe?«
Er sah nach rechts und erkannte dort die Frau des Gürtlers, deren Tochter sich an Albrechts Gerichtstag dank Peters Warnung rechtzeitig verstecken konnte.
Tränen liefen ihr über die Wangen, sie bekreuzigte sich und ließ ihn nicht aus den Augen, während er von ihren Lippen ein verzweifeltes »Gott steh Euch bei!« ablas.
Er gab durch nichts zu erkennen, dass er verstanden hatte, aber das Herz wurde ihm warm angesichts dessen, dass Marthe und er in Freiberg selbst nach fünf Jahren des Exils nicht vergessen waren. Aus dem Augenwinkel sah er noch, dass die Frau mit wehenden Röcken irgendwohin rannte. Wer weiß, wem sie nun alles von dieser Begegnung erzählen würde.
Sie ritten an Sankt Marien vorbei, der noch im Bau befindlichen größten Kirche der Stadt. Mit verstohlenen und argwöhnischen Blicken musterten die Steinmetze die Gruppe Reiter, denen der matte Wind feinen Staub in die Augen blies.
Lukas sog jedes einzelnes Bild in sich auf. Vielleicht sah er das alles zum letzten Mal.
Betont langsam näherten sie sich dem Burgtor, um bei den Wachposten auf der Mauer nicht den Verdacht zu schüren, es drohe ein Angriff. Da Gerald an der Spitze ritt, passierten sie unbehelligt das Tor. Die Wachen schienen es nicht für nötig zu halten, eine Gruppe näher zu überprüfen, die unter dem Kommando des Marschalls stand.
Auf dem Hof saßen sie ab. Christian, der Stallmeister, hatte es so eingerichtet, dass er Lukas’ Hengst in Empfang nahm. »Gott schütze Euch! Wir alle beten, dass gelingt, was Ihr plant«, flüsterte er ihm zu. »Sollte es hier draußen zum Kampf kommen: Wir stehen bereit.«
Lukas antwortete nicht. Er konnte nicht wissen, wer sie alles beobachtete. Und er hatte auf dem Hof Rutger entdeckt, der das Auspeitschen eines Knechtes überwachte und nun einen neugierigen Blick auf die Neuankömmlinge richtete.
Gerald reagierte sofort und rief ihn zu sich.
»Schaut, welcher Fang uns gelungen ist!« Stolz wies er auf die beiden Gefesselten. »Ich bringe sie in den Palas zu Euerm Vater und Fürst Albrecht. Zieht Ihr derweil hier draußen alle verfügbaren Wachen zusammen und sorgt dafür, dass niemand den Palas betritt. Es sind sicher schon Leute unterwegs, um die beiden Verräter herauszuhauen. Und Ihr wollt doch ebenso wenig wie ich, dass sie ihrer gerechten Strafe entgehen?«
Gut reagiert!, dachte Lukas. So bleibt uns nicht nur dieser übereifrige Rutger aus dem Weg, sondern wir haben es vorerst nur noch mit den Leibwachen zu tun, die sich im Palas aufhalten. Rutger wird Geralds Weisung mit Inbrunst und in aller Gründlichkeit befolgen. Hauptsache, Thomas bleibt unerkannt.
Aber Rutgers ganze Aufmerksamkeit war auf die beiden Gefangenen des Marschalls gerichtet.
»Was für ein köstlicher Augenblick! Lukas von Freiberg und Raimund von Muldental«, triumphierte Randolfs Sohn. »Manchmal mahlen Gottes Mühlen langsam, aber sie mahlen immer gerecht.«
Mit aller Kraft hieb er Lukas die Faust ins Gesicht.
»Das ist für dich«, sagte er keuchend und schlug noch einmal zu. »Und das für deinen Bastard von Stiefsohn.«
Lukas schüttelte sich, um wieder einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen. Seine Lippe war aufgeplatzt und blutete, sein Auge würde vermutlich
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