Der Traum des Schattens
Hände nach ihm aus, nach seinem goldenen Fell…
In der Realität gab es nur den grauen Wolf, der unvermittelt stehenblieb. Selten war ihr ein Blick so menschlich vorgekommen. Er winselte wie ein Hund, als wüsste er nicht, welche Laute zu einem Wolf passten. Es war, als wäre ein Mensch in ein Tier verwandelt worden, dessen Eigenarten er spielen musste, ohne sie wirklich zu kennen.
» Wer warst du?«, fragte sie leise.
Manchen fiel das Wolfsein so leicht, als wären sie nie etwas anderes gewesen. Sie dachte an Bela und Wilder im Wald– Wölfe in Perfektion, die so mühelos durch die endlose Nacht glitten wie Fische im Wasser, Freude und Zuversicht in jedem Sprung, Stärke und Anmut in jeder ihrer Bewegungen.
Auf einmal fiel ihr ein, dass auch der goldene Wolf ihrer Träume einmal ein Mensch gewesen sein könnte. Nein. Sie wies den Gedanken weit von sich. Dazu bewegte er sich viel zu sicher, als gehörten ihm der Wald und die Wiese und jeder Grashalm, als wäre ganz Magyria sein… Er lauerte sogar hinter jedem Gedanken.
» Also, was ist hinter dieser Tür? Du weißt es, stimmt’s?«
Der Wolf warf sich ihr zu Füßen und legte den Kopf auf die Pfoten. Selbst diese flehende Geste, die Tür zu öffnen, kam Hanna irgendwie aufgesetzt vor. Als sie den Schlüssel hervorzog, ächzte er, und seine Gefühle drohten ihn zu überwältigen.
» Was kann dir so viel bedeuten?«, fragte Hanna leise. Der Schlüssel ließ sich spielend leicht umdrehen, was darauf hindeutete, dass er häufig benutzt wurde. Auch die Tür öffnete sich ohne das geringste Knarren. Der Wolf stürmte hinein, bevor Hanna ihn daran hindern konnte, doch dahinter war bloß ein weiterer langer Korridor.
In einem Punkt waren die neue und die alte Hanna sich gleich. Sogar als Schatten war sie immer noch viel zu neugierig, und Herumschnüffeln war erklärtermaßen eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Außerdem hatte sie eine Vorliebe für verschlossene Türen. Die Erinnerung fühlte sich an wie ein Traum– wie sie Kunun und Atschorek durch die Stadt gefolgt war, in das Haus am Baross tér, unter den Löwenköpfen hindurch, die die Haustür bewachten. Wie sie eine Treppe hochgestiegen war und die beiden über das Balkongeländer beobachtet hatte, wie sie vor Kununs leisen Schritten höher geflohen war…
Schon damals hatte sie sich wie eine Jägerin gefühlt, hatte die Erregung genossen, mit der das Jagdfieber durch ihre Adern geströmt war. Angst, Schrecken, Aufregung. Der unwiderstehliche Drang, alles wissen zu wollen, den Dingen auf den Grund zu gehen… Und dann? An dem Punkt wurde der Traum verschwommen. Ein Fahrstuhl, eine gläserne Wand, Dunkelheit im Hof hinter ihr, eine lange Nacht in der Kälte, während die Scheibe sich mit Eisblumen überzog.
Da sie nur in Begleitung eines Wolfs durch die Burg schlich, überkam sie auf einmal ein ähnliches Gefühl wie damals, als sie versucht hatte, ein Beweisfoto zu schießen, um Réka davon zu überzeugen, dass ihr Freund ein Vampir war. Wieder versuchte sie Kunun auszutricksen und mehr über ihn zu erfahren, als er preisgeben wollte. Es kam ihr ein wenig hinterhältig vor, andererseits– warum hatte er überhaupt Geheimnisse vor ihr?
Der graue Geselle mit der weißen Schnauze blieb an ihrer Seite, er ließ nicht locker, schnappte nach ihrem Ärmel und zerrte daran.
» Ich soll aufhören zu träumen und mich beeilen, stimmt’s?«
Das Tier gab einen überraschend menschlichen Seufzer der Erleichterung von sich. Dann huschte es vor ihr her, und Hanna folgte ihm durch eine Flucht stiller, verlassener Räume. In der Ferne ertönte leiser Gesang, als hätte jemand ein Radio vergessen.
Sie warf dem Wolf einen verwunderten Blick zu. » Wer ist das?«
Bald erhielt sie die Antwort darauf. Ganz menschenleer war dieser Bereich nämlich nicht– in einem der Säle befand sich eine Frau mit einem Wassereimer und einem Schrubber, die den Marmorboden wischte. Sie trug ein schlichtes Kleid und ein Kopftuch, das ihr die Haare aus dem Gesicht hielt. Während sie im Schein einiger trüber Lampen putzte, sang sie gedämpft vor sich hin.
Der Wolf wimmerte wie ein Kind. Als er auf sie zulief, rutschte er auf dem nassen Boden aus und schlitterte ein paar Meter, ehe er gegen den Eimer stieß und im Seifenwasser zappelte, das sich über die Fläche ergoss. Er mühte sich ab, als versuchte er, über einen zugefrorenen See zu laufen.
» Bist du schon wieder da, Wolf?«, fragte die Frau. » Jetzt kann ich hier alles
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