Der Turm der Seelen
ich muss mit ihm sprechen.» Vor ein paar Tagen noch hätte das wie ein richtiger Durchbruch gewirkt, und auch jetzt war es immer noch wichtig. «Vielleicht kann mich Lol hinfahren.»
«Wenn das unbedingt sein muss, dann hole
ich
Sie ab. In einer Stunde? Und lassen Sie den Priesterkragen weg.»
Das hatte Sophie noch nie gesagt.
Irgendwie war es Lol gelungen, in der Mikrowelle Rührei herzustellen. Auf einer der Packkisten hatte er ein sauberes Tischtuch ausgebreitet. Merrily sah sich um. Sie war richtig gerührt. Entweder hatte gar nicht gestimmt, was er über den Zustand der Küche gesagt hatte, oder er musste nachts stundenlang aufgeräumt und geputzt haben.
Er brachte ihr noch einen Toast. Und er trug tatsächlich das alte Roswell-Alien-Sweatshirt. Inzwischen war es zu einem blassen Hellgrau ausgebleicht, hatte Löcher an den Ellbogen, und immer noch starrten einen von der Brust aus diese riesigen schrägen Augen an. Merrily erzählte ihm von Sophies Anruf und dass sie wegen der Shelbones nach Hereford musste.
«Und danach?», fragte Lol leichthin.
«Bitte ich Sophie, mich hierher zurückzubringen. Wenn das für dich in Ordnung ist.»
Lol lächelte.
«Oder vielleicht hole ich mir auch schnell den Volvo. Ist ja schließlich kein Exorzisten-Aufkleber drauf. Sophie war gestern Abend möglicherweise ein bisschen übervorsichtig.»
«Ich glaube, sie hat einfach befürchtet, dass du allein nicht klarkommst», sagte Lol. «Wie geht es dir jetzt?»
«Na ja, ich kann schon wieder essen … danke.» Sie warf einen Blick auf die Frühstücksreste und sah dann Lol an. «Ich habe nicht das Gefühl, charakterlich irgendwie daran gereift zu sein, dass ich gesehen habe, wie ein Mann den Kopf seiner Frau herumträgt, als wäre er eine Topfpflanze.»
Ein Schauder überlief sie. Warum hatte Stock das bloß getan? Warum war er mit dem Kopf hereingekommen und hatte ihn in dem Sonnenstrahl abgelegt wie ein Steinzeitpriester, der zur Mittsommernacht ein Opfer darbringt? Sie brachte ihren Teller an die Spüle und drehte das warme Wasser auf.
«Lol, als … als ich gesagt habe, dass Stock gestanden hat, meinte Sophie ‹Hat er das?›. So als gäbe es irgendwelche Zweifel.»
Sie beobachtete seine Reaktion. Er sah nicht sehr glücklich aus.
«Bekomme ich gerade irgendwas nicht mit?»
«Na ja …» Er nahm ein Geschirrtuch und drehte es zwischen seinen Händen. «Vielleicht hat sie sich gefragt, was ist, wenn er auf ‹nicht schuldig› plädiert.»
«Aber er hat doch selbst die Polizei gerufen, oder? Und er hat gesagt, dass er seine Frau umgebracht hat.»
«Aber inzwischen hatte er Zeit, in Ruhe über alles nachzudenken. Mir hat es gleich nicht gefallen, dass er keine Aussage machen wollte. Der Typ ist schlau. Ich kann mir vorstellen, dass er sich einen gerissenen Verteidiger nimmt und sie versuchen, die ganze Sache auf den Exorzismus zu schieben.»
«Du meinst, auf
mich
, oder?»
«Ich weiß nicht. Du hast doch eine Zeitlang Jura studiert, glaubst du, dass so etwas überhaupt geht?»
«Aber was könnten sie denn sagen?» Ihr wurde flau. «Dass Stock nach einer Überdosis Heiliger Geist einen Aussetzer hatte?Ich glaube, so etwas wurde nicht einmal bei dem Taylor-Mord angedeutet.»
«Allerdings hast du selbst gesagt, dass das schon über ein Vierteljahrhundert her ist. Vielleicht schleppen sie ja auch einen Psychologen an, der ein Gefälligkeitsgutachten abgibt. Von denen laufen Hunderte rum. Uniprofessoren, Autoren von Standardwerken und wissenschaftlichen Artikeln. Sie sind schrecklich eloquent, wahnsinnig glaubwürdig und platzen fast vor Selbstsicherheit. Ich habe solchen Leuten monatelang zugehört. Die sind zum Fürchten. Und zwar, weil sie zwar nicht unbedingt
recht
haben, aber trotzdem überzeugen können.»
Er legte das Geschirrtuch weg und lehnte sich an das Ablaufbrett aus Edelstahl. Merrily ließ sich warmes Wasser über die Handgelenke laufen. Das war ein neuer Lol, oder?
«Also, sie zeigen Stocks Film bei der Gerichtsverhandlung», sagte er. «Die Geschworenen sehen dich bei der Arbeit. Und am Schluss sehen sie Stock, wie er dich aus dem Haus werfen will. Er ist wütend, beinahe außer sich – das ist natürlich der echte Stock, aber das wissen die Geschworenen ja nicht. Der Stock, den
sie
zuerst kennengelernt haben, war dieser ruhige, zurückhaltende, entgegenkommende Mann, der einfach nur will, dass in seinem Haus der Frieden wiederhergestellt wird. Dann fragen sie sich: Was ist passiert?
Weitere Kostenlose Bücher