Der Ursprung des Bösen
kraftlos, der andere breitete sich aus, bewegte sich und forderte Raum. Im vierten Monat verbarg der Kleinere sein Gesicht zwischen den Händen. Der Größere trommelte mit Fäusten und Füßen gegen die trennende Membran. Im fünften Monat wurden die ohnehin schon gravierenden Unterschiede durch das Ernährungsproblem verschlimmert.
Wie in Kubielas Albtraum hatte der Frauenarzt die Eltern von der Komplikation in Kenntnis gesetzt. Sie mussten sich entscheiden, entweder die Natur ihr Werk vollenden zu lassen oder einen der Föten abzutöten. Franciszkas Leib war zu einem Schlachtfeld auf Leben und Tod geworden.
Die Eltern hatten nicht gezögert. Ein erster Arztbericht im Juli 1971 sprach von der Planung eines selektiven Fetozids. Ein handgeschriebener Brief des behandelnden Gynäkologen erwähnte, dass die sehr fromme Polin Franciszka das dominante Kind als diabolisches, mit paranormalen Fähigkeiten begabtes Wesen empfand, dessen übermäßige Aktivität nur ein Ziel hatte – seinen Bruder zu töten. Sie hielt den größeren Zwilling für feindselig, böse, lasterhaft und nicht bereit, seinen Platz zu teilen.
Zwischen den Zeilen stand aber noch etwas anderes. Die geistige Gesundheit Franciszkas verschlechterte sich von Tag zu Tag. Die Aussicht auf den Eingriff schien keine Wende herbeizuführen, obwohl es sich nach Ansicht der jungen Frau um die Beseitigung der Verkörperung des Bösen handelte. Wie eigentlich immer verschleierten die medizinischen Begriffe die grausame Realität, denn das, was man selektive Abtreibung nennt, bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Abtötung eines Föten, um einen oder mehrere andere zu retten.
Mit dem ersten Brief, der von dieser Möglichkeit sprach, endete die Akte. Keine Untersuchungsergebnisse, keine Ultraschallfotos, keine Berichte mehr. Hatte das polnische Ehepaar alle Spuren tilgen wollen? Kubiela kam noch eine andere Erklärung in den Sinn. Der Fetozid hatte nie stattgefunden. Die Lage in der Gebärmutter hatte sich normalisiert, die Ernährung der Föten war auf natürliche Weise wieder ins Gleichgewicht gekommen, und die Zwillinge wurden ausgetragen.
Am 18. November 1971 gebar Franciszka zwei Kinder. Für sie jedoch blieb der dominante Sohn ein Kind des Teufels. Sie wollte ihn weder aufziehen noch ihn auch nur in ihrer Nähe haben. Andrzej brachte ihn irgendwo unter.
Und so wurden die Kubielas zu einer Familie. Belastet von einem Geheimnis, einem nicht angenommenen Kind, einer Lüge.
Der dunkle Zwilling hatte überlebt. Er war herangewachsen, gereift und hatte die Wahrheit geahnt. Während er in Heimen und bei Pflegeeltern aufwuchs, dachte er über seine Abstammung nach, als Erwachsener schließlich forschte er genauer. Nachdem er seine Geschichte herausbekommen hatte, beschloss er, dort wieder anzufangen, wo er 1971 im Bauch der Mutter aufgehört hatte.
Konnte sich Rache aus einer tieferen Quelle speisen?
Noch einmal nahm sich François die Ultraschallfotos vor. Vor seinem inneren Auge färbten sie sich rot. Als hätte man sie in Blut und Hass getränkt, als glühten sie wie ein Vulkan. Er sah zwei feindliche Brüder, Kain und Abel, die sich im schwerelosen Zustand auf ihr Duell vorbereiteten.
François war der schwache Zwilling, das kraftlose Geschöpf, das sich die Augen mit den Händen zuhielt. Nach der Geburt hatte sich alles umgekehrt. Er war zum Auserwählten geworden, zum Bevorzugten, zum Sieger. Er war im warmen Schoß einer Familie aufgewachsen, während der Bruder sein Dasein in Heimen und vom Staat bezahlten Pflegefamilien fristete.
Und jetzt bezahlte er dafür. Niemand kann seinem Schicksal entfliehen. Es war wie in der griechischen Mythologie. Franciszkas Schwangerschaft war das Orakel gewesen, aus dem man die Zukunft hatte ablesen können.
Es gab nicht den geringsten Beweis dafür, dass Kubielas Annahmen richtig waren, doch sein Bauchgefühl bestätigte ihn. Im Grunde hatte er es immer gewusst. Auch die Namen, die er sich bei jeder psychischen Flucht gegeben hatte, verwiesen darauf. »Janusz«, »Freire«, »Narcisse« und »Nono« drückten auf die eine oder andere Weise Dualität aus.
Daran hätte er schon früher denken sollen. Freire klang wie das französische Wort für Bruder. Janus war der Gott mit den zwei Köpfen. Narziss hatte sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Und die beiden gleichlautenden Silben von Nono symbolisierten das Gegenüber der beiden Föten im Uterus.
Die Namen waren Signale gewesen, die den anderen
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