Der Vampir, den ich liebte
Fingern bemühte ich mich, die Zügel um einen
Pfosten zu schlingen.
Gott sei
Dank. Sie war festgebunden.
Ich drehte
mich zu Lucius um, der eine Hand auf die Rippen unter dem blutigen Hemd
presste. Sofort ließ ich mich auf die Knie nieder und ergriff seine freie Hand.
»Es wird alles gut«, versprach ich. Aber ich konnte meinen Blick einfach
nicht von seinem Bein abwenden. Der Bruch befand sich auf Höhe der Wade, sogar
der Lederstiefel war verbogen. »Hol Hilfe«, rief ich Faith zu, die wie gelähmt
dastand und wieder und wieder jammerte: »Es war ein Unfall.«
»Hol
jemanden!«, brüllte ich sie an. »Sofort!«
Faith
erwachte aus ihrer Erstarrung, drehte sich um und lief los.
»Nein«,
schrie Lucius, lauter, als ich es für möglich gehalten hätte angesichts seines
erbärmlichen Zustands. Etwas in
seinem Tonfall ließ Faith abrupt stehen bleiben. Sie fuhr herum. »Hol Jessicas
Eltern. Niemanden sonst.«
Faith
zögerte, verwirrt, unsicher, in Panik. Sie sah mich an.
»Hol die
Sanitäter«, flehte ich Faith an. Was tat Lucius da? Er brauchte einen
Krankenwagen.
»Nur
Jessicas Eltern«, übertönte Lucius meine Stimme mit absoluter Bestimmtheit. Er
umklammerte meine Hand, sodass ich nicht wegkonnte.
»Ich ...
ich ...«, setzte Faith an.
»Geh«,
befahl Lucius.
Faith
rannte los. Ich betete, dass sie die Sanitäter holen würde.
»Verdammt,
das tut weh.« Lucius stöhnte. Sein Gesicht verzerrte sich, als eine Welle des
Schmerzes ihn durchfuhr. Er drückte meine Hand. »Bleib hier, ja?«
»Ich gehe
nirgendwohin«, erwiderte ich mit möglichst fester Stimme. Ich gab mir alle
Mühe, Lucius meine Furcht nicht sehen zu lassen, und unterdrückte einen
Aufschrei, als ich sah, dass ein dünnes Rinnsal Blut aus seinem Mund floss. Das
konnte nichts Gutes bedeuten. Er schien innere Blutungen zu haben. Mit
zitternden Fingern wischte ich die dunkelrote Flüssigkeit weg und eine Träne
fiel auf seine Wange. Mir war nicht einmal bewusst gewesen, dass ich weinte.
»Bitte, tu
das nicht«, keuchte Lucius und sah mir in die Augen. »Brich nicht zusammen.
Denk daran: Du bist von königlichem Geblüt.«
Ich drückte
seine Hand noch fester. »Ich weine nicht. Halte einfach durch.«
Er bewegte
sich ein wenig und zuckte zurück. »Das hier kann einen ... du weißt schon ...
nicht umbringen.« Gott, hielt er auch jetzt noch an dieser Vampir-Nummer fest? Ich
zweifelte keine Sekunde daran, dass er sterben konnte. »Lieg still.« Und
hoffe, dass Faith deine Befehle ignoriert.
»Dieses
Bein ... verdammt.« Seine Brust hob und senkte sich, er hustete. Noch mehr Blut.
Eine Menge Blut. Zu viel Blut. Es kam aus seinen Lungen. Wahrscheinlich eine
Ruptur. In der Schule hatte ich genug Erste-Hilfe-Kurse belegt, um
Grundlegendes über Unfälle zu wissen. Ich wischte ihm mit dem Ärmel über die
Lippen, aber auf diese Weise verschmierte ich uns beide nur mit noch mehr
Blut. »Gleich ist Hilfe da«, versprach ich. Werden sie wirklich schnell
genug hier sein?
Instinktiv
strich ich mit der freien Hand über Lucius' dunkles Haar. Sein Gesicht
entspannte sich ein klein wenig; sein Atem ging eine Spur ruhiger. Also ließ
ich die Hand dort, auf seiner Stirn.
»Jess?« Er
sah mich forschend an.
»Du darfst
nicht reden.«
»Ich ...
ich denke, du verdienst ... den Preis.«
Ohne es zu
wollen, lachte ich, ein abgehacktes, ersticktes Lachen, und beugte mich vor, um
ihn auf die Stirn zu küssen. Es passierte einfach. Es fühlte sich gut an, als
sei es das Richtige. »Du auch.«
Er schloss
die Augen. Ich spürte, dass er langsam das Bewusstsein verlor. »Und, Jess ...«
»Sei
still.«
»Lass nicht
zu, dass sie meinem Pferd ... etwas antun«, brachte er zwischen einigen
gequälten Atemzügen heraus. »Sie meint es ... nicht böse. Es war nur die Gerte,
weißt du...«
»Ich werde
es versuchen, Lucius«, versprach ich. Aber ich wusste, dass ich keinen Erfolg
haben würde. Hell's Belles Gnadenfrist war vorüber.
»Danke,
Antanasia ...« Seine Stimme war beinahe unhörbar.
Auf der
anderen Seite der Scheune hörte ich Autoreifen auf Gras. Ein ganz klein wenig
erleichtert atmete ich auf. Faith hatte tatsächlich den Krankenwagen geholt.
Aber nein.
Der Wagen, der um die Ecke bog, war ein zerbeulter VW-Van, am Lenkrad saß Ned
Packwood. Meine Eltern sprangen heraus, große Sorge in den Gesichtern, und
rannten herbei. »Bringen Sie mich nach Hause«, flehte Lucius, der wieder mehr
zu sich zu kommen schien. »Sie wissen ...«
Mom fuhr zu
mir herum.
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