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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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zurückkommt?«
    »Morgen. Hat Mrs. Evans gesagt. Er hat heute Nachmittag ein Telegramm geschickt.«
    Charlotte atmete auf. Noch eine Nacht, und dann konnte sie endlich mit Sir Andrew sprechen. Alles war besser, als untätig zuzusehen, wie sich Emily in einer anderen Welt verlor.
    Nach dem Abendessen zog Charlotte ihren Mantel über, ließ sich von Wilkins eine Laterne geben und ging in den Garten. Nora war bei Emily geblieben, die schon im Bett lag, aber noch lesen durfte.
    An diesem Novemberabend wirkte der Garten fremd und un heimlich, da der Lichtschein der Laterne nur die allernächste Um gebung erhellte, während dahinter tiefe Dunkelheit herrschte. Das feuchte Laub bildete einen Teppich, der ihre Schritte dämpfte. Wilkins hatte ihr angeboten, sie zu begleiten, doch Charlotte wusste selbst nicht genau, was sie hier draußen suchte, und wollte lieber unbeobachtet bleiben. Emilys Worte hatten ihr keine Ruhe gelassen. Was hatte das Mädchen vom Fenster aus gesehen?
    Sie spürte, wie die Nässe des Rasens durch ihre Schuhe drang, ging aber weiter in die Richtung, in der sie das Tor in der Mauer vermutete. Ein Rascheln ließ sie zusammenfahren. Sicher nur eine Maus.
    Dann plötzlich fiel das Licht auf die Backsteinmauer, und sie schwenkte die Laterne nach links und rechts, bis sie das Tor gefunden hatte. Sie blieb davor stehen und leuchtete den Boden ab, konnte aber nichts entdecken. Allerdings wären auf dem nassen Laub ohnehin keine Fußabdrücke zurückgeblieben.
    Von wem auch? Geister hinterließen keine Fußabdrücke. Charlotte musste sich zusammenreißen; hier draußen im Dunkeln spielte die Fantasie ihr seltsame Streiche. Sie zog den Mantel enger um die Schultern, blickte zum Haus zurück, in dem nur wenige Fenster erleuchtet waren, und trat zum ersten Mal durch das Tor in den Wald.
    Die Stille war noch undurchdringlicher als im Garten, das Haus schien plötzlich meilenweit entfernt. Sie hob die Laterne und entdeckte einen ausgetretenen Pfad, der in den Wald hineinführte. Sie schluckte und schaute sich unschlüssig um. Sollte sie wirklich weitergehen? Hier würde niemand sie hören, wenn etwas geschah … Doch im nächsten Moment schalt sie sich für ihre Ängstlichkeit. Nur ein kleines Stück. Dann würde sie umkehren.
    Schritt für Schritt ging sie weiter, die Laterne fest umklammert. Erst beim Gehen wurde ihr bewusst, dass sie wohl denselben Weg nahm wie Lady Ellen, bevor sie in den Mole gestürzt war.
    Plötzlich trat sie auf etwas Festes und zuckte zusammen. Sie hob die Laterne und sah sich einem verschlungenen Gebilde mit Wurzeln gegenüber, das an einen Kraken mit gewaltigen Fangarmen erinnerte. Es ragte vor ihr auf, schien ihr den Weg zu verstellen. Ein Baum, wie sie ihn noch nie gesehen hatte! Nicht sehr hoch, aber unendlich verzweigt. Der Pfad schlängelte sich rechts an dem Baum vorbei.
    Charlotte ging noch ein paar Schritte und hielt dann inne. Sie spürte plötzlich, dass sie nicht allein war. Doch es war nichts zu hören außer ihrem Atem, nichts zu sehen außer dem wenigen, das die Laterne preisgab, auch hätte sie nicht sagen können, in welcher Richtung sich dieses Etwas von ihr aus befand. Sie versuchte zu rufen, brachte aber nur ein gepresstes Flüstern zustande. »Wer ist da?«
    Nichts regte sich. Sie spannte alle Muskeln an. Lauf, sagte sie sich, lauf zurück! Dann löste sich die Starre, sie wandte sich um, die Laterne hoch vor sich ausgestreckt, und leuchtete zum Tor in der Mauer. Rasch stieß sie es wieder auf und rannte über den Rasen, bis sie die Ecke des Hauses erreicht hatte. Dort drehte sie sich noch einmal um und schaute zurück, doch die Dunkelheit hatte Wald und Mauer verschlungen.
    Unsinn, schalt sie sich, als sie wieder zu Atem gekommen war. Sie musste ihren Verstand gebrauchen, auch wenn sie allein im Dunklen war. Wer sollte sich um diese Zeit im Wald herumtreiben?
    Sie begab sich in die Remise, löschte die Laterne und stellte sie in das Regal, aus dem Wilkins sie zuvor genommen hatte. Zum Glück war sie allein. Undenkbar, dass die letzten Minuten keine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen hatten.
    Sie trat hinaus und schaute ein letztes Mal in den Garten. Sonderbar, gewöhnlich lachte sie über sich selbst, wenn sie sich vor banalen Dingen wie der Dunkelheit gefürchtet oder vor einem unerwarteten Geräusch erschreckt hatte, doch diesmal saß die Angst zu tief.
    Mit gesenktem Kopf kehrte sie ins Haus zurück.

23
    Am nächsten Morgen schlief Charlotte länger als

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