Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
gesehen?«
»Es ist noch nicht allzu lange her, Herr Medhir«, antwortete Wilhag. »Aber ein bisschen Zeit ist seitdem verstrichen. Wir sind ein wenig herumgerannt, um dich zu suchen, wie du weißt.«
Finn zählte an den Fingern ab. »Wir waren zuerst im Stall, darauf in der Werkstatt, dann haben wir mit Fionwen gesprochen, ehe die Sache mit Papa geschah, was uns aufhielt – es mögen fünfzehn, vielleicht zwanzig Minuten vergangen sein, schätze ich.«
»Also Eile mit Weile – eben ganz nach Vahitart«, murmelte Circendil verdrossen. »Zwanzig Minuten! Inzwischen kann Mellow sonst wo sein. Auf! Wir müssen ihn finden. Wenn du Recht hast mir der Sinyanhwe, droht ihm und uns Unheil. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Kommt rasch!«
Sie eilten zurück. Vor dem Tauberhaus angekommen sagte der Davenamönch: »Hier teilen wir uns. Ich kümmere mich um deinen Vater. Ihr beide sucht nach Mellow. Schaut zunächst, ob Vanku noch im Stall steht; ist das der Fall, folgt Mellow zu Fuß. Aber gebt zuvor den Auftrag, unsere Ponys zur Abreise nach draußen zu führen. Wenn ihr ihn nicht binnen zehn Minuten in der Nähe findet, werden wir ihm beritten folgen und nicht hierher zurückkehren. Es ist keine Zeit für Abschiede mehr. Und schon gar nicht für ein Frühstück. Jetzt lauft, so rasch eure Beine euch tragen!«
Circendil öffnete die Tür und entschwand mit weiten Schritten im Innern des Hauses.
Wilhag wollte fort, doch Finn hielt ihn am Ärmel fest. »Eile mit Weile, ganz nach Vahitart.« Er ahmte die vindländische Sprechweise des Medhirs nach und verzog das Gesicht. »Er hat gut reden, bei seinen langen Beinen. Bevor wir blindlings losrennen, sollten wir lieber überlegen, wo wir nach Mellow suchen wollen. Und uns an ihm ein Beispiel nehmen. Er hat sein Gepäck geschultert. Meines steht noch im Flur. Warte!« Er trat ins Dunkel des Hauses und kam kurz darauf mit Sack und Pack wiederzum Vorschein. »So«, stellte er fest. »Eines habe ich in den sieben Tagen, seit wir auf Saisárasar trafen, gelernt. Du weißt nie, was als Nächstes geschieht. Ich meine, ehe du dich versiehst, stürzt du dich zum Beispiel in einen Brunnen. Lieber habe ich alles bei mir. Hast du eine Idee, wo wir mit der Suche beginnen sollen?«
»Eher ein Gefühl, falls du das gelten lässt. Denk daran, wie sich Mellow auf dem Beukel verhielt – nachdem er diesen Stein gefunden hatte.«
»Er kam erst als Letzter herunter – meinst du das?«
»Ja. Das Erste, was er sagte – was war das noch? Er sollte zurückgegeben werden , richtig?«
Finn nickte. »Genau. Und dabei stand er wie angewurzelt da und starrte Löcher in die Luft – in die Luft!« Er schlug sich an die Stirn.»Oh wir Narren! Er sollte zurückgegeben werden! Mellow dachte dabei an den Eigentümer des Steins, vielmehr ließ der Stein ihn dies denken. Und der Eigentümer ist niemand anderes als Saisárasar! Und aus welcher Richtung ist mit ihm zu rechnen? Von oben. Aus der Luft!«
»Eben das sagte ich mir. Und wenn du jetzt noch an euren Bholobhorg denkst … vielleicht floh er gestern Abend nicht nur zufällig zum Beukel hinauf, sondern er suchte gezielt den höchstgelegenen Punkt der Umgegend auf, um …«
»Um den Stein zurückzugeben!«, vollendete Finn. »Und er kannte den Beukel und den Weg dorthin, weil er uns schon am Nachmittag heimlich hinauf gefolgt war. Du erinnerst dich? Wir hörten Schritte, als wir vor dem Regen flohen. Ich wette, dass er es war. Das bedeutet, er hat unser Gespräch belauscht, und später am Abend obendrein erfahren, was am Tisch gesprochen wurde. Auf jeden Fall hat er genug aufgeschnappt, um es Saisárasar zu melden. Falls der Stein es war, der ihn trieb, dann war es gar nicht Bhobho, sondern die Sinyanhwe, die zu ihrem Herrn zurück wollte.«
»Und Herr Mellow geriet in diesen unseligen Bann, kaum dass er den Stein berührte. Es ist wie verhext, mein lieber Vetter. Ichbin wirklich ein fürsorglicher Gastgeber für dich. Du stürzt vom Felsen und was nicht alles. Ich habe auf alles Mögliche geachtet und habe dabei glatt das Offensichtliche übersehen. Ich war zu sehr mit meiner Fackel beschäftigt, das ist es.« Wilhag gab einem Fass, in dem mehrere Fackeln lagerten, einen ärgerlichen Tritt.
Inzwischen waren sie am Stall angelangt und steckten die Köpfe hinein. Vanku stand wie vorhin noch neben Gwaeth, und auch Smod blieb in seiner Ecke und ließ die Ohren hängen, traurig wie zuvor. Inku rannte zu ihm und bellte
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