Der verlorne Sohn
kommen.«
»Um ihn sorge ich mich auch nicht, desto mehr aber um mich.«
»Warum?«
»Mordversuch! Das klingt gar schrecklich.«
»Es ist aber nicht so schrecklich, wie es klingt. Was haben denn Deine Eltern gesagt, als sie es erfuhren?«
»Die Mutter war nicht da, und der Vater hat kein Wort herausgebracht. Er ist an Allem schuld. Er wollte mich zwingen, zu Seidelmanns zu ziehen.«
»Um Gottes willen nicht, Engelchen! Du siehst ja, wie es mir ergangen ist. Ich bin nur einige Tage dort gewesen, und die Folgen wirst Du wissen.«
»Ist es denn wirklich so anders mit Dir?«
Es entstand eine minutenlange Pause, dann antwortete die Tochter des Schreibers:
»Warum fragst Du? Alle Welt wird es bereits wissen!«
»Du Ärmste!«
»Ja. Und ich bin unschuldig, das kann ich bei allen Heiligen beschwören. Ich habe mich gegen ihn gewehrt wie ein Teufel. Ich habe um Hilfe gerufen, aber Niemand hat es gehört.«
»Das glauben Dir alle Leute!«
»Und den Ring habe ich auch nicht gestohlen!«
»Er hat ihn Dir geschenkt?«
»Nein. Als ich mit ihm rang, blieb mir sein Ring in der Hand. Ich habe ihn behalten, um beweisen zu können, daß er bei mir gewesen ist.«
»Hättest Du ihn doch lieber zurückgegeben.«
»Leider! Ich sehe jetzt auch ein, daß ich da sehr unvorsichtig gewesen bin. Man wird mich als Diebin bestrafen. Und nachher – – –«
Sie schwieg. Engelchen fragte:
»Und vor dem Anderen, was nachher kommen wird, fürchtest Du Dich auch? Nicht wahr?«
»Ja. Mein Leben ist verdorben. Ich bin ein unglückliches Geschöpf und habe nichts mehr zu hoffen!«
»Das darfst Du nicht sagen! Die Leute wissen alle, daß Du unschuldig bist.«
»Gehe mir mit den Leuten! Sie haben für sich selbst zu thun. Und wenn sie zehnmal wissen, daß ich unschuldig bin, so bin und bleibe ich doch ein gefallenes Mädchen. Nach meiner Schuld oder Unschuld wird Keiner fragen.«
»Du darfst Dein Gottvertrauen nicht sinken lassen. Es wird ja Vieles ganz anders, als man sich ursprünglich gedacht hat.«
»Das ist wohl wahr! Aber ich habe keine Hoffnung mehr. Meinen Vater haben sie zwar wieder frei gelassen. Aber was wird er machen? Seidelmanns haben ihn ganz sicher nicht wieder in Arbeit genommen.«
Sie erwartete eine Antwort von Engelchen; da diese aber schwieg, fuhr sie fort:
»Weißt Du vielleicht, ob er wieder bei ihnen ist?«
»Er ist nicht dort,« antwortete die Gefragte leise und langsam.
Sie merkte, daß die Tochter noch nichts von dem Tode ihres Vaters wußte, und scheute sich, ihr diese betrübende oder gar wohl erschütternde Nachricht mitzutheilen.
»Nicht?« fragte Gustel. »So hat er wohl gar keine Arbeit?«
»Nein; erarbeitet nicht.«
Sie hatte damit allerdings die Wahrheit gesprochen. Der Schreiber ruhte in einem und demselben Grabe mit seinem Weibe unter der Erde. Sein irdisches Wirken war abgeschlossen; er arbeitete nicht mehr. Seine Tochter aber nahm diese Worte anders und fragte: »O Gott! So ist er daheim bei der Mutter?«
»Ja.«
Auch das war keine Unwahrheit. Er war daheim, in der Heimath, welche uns Alle erwartet. Er war bei der Mutter. Seine Tochter verstand das freilich nicht symbolisch. Sie seufzte tief auf und klagte: »Welch’ ein Elend! Du kennst unsere Armuth, und darum kann ich Dir sagen, daß wir die ganze vorige Woche von einem Topf voll Sauerkraut gelebt haben. Das ist das Allerbilligste, was es giebt. Ich habe gehungert, damit die Mutter nichts davon merken sollte, und wenn sie fragte, ob die kleinen Geschwister gegessen hätten und satt seien, habe ich mit Ja geantwortet, obgleich die armen Kleinen nur eine trockene, harte Brodrinde gehabt hatten. Da stand der Vater noch in Arbeit. Jetzt nun sitzt auch er zu Hause und hat keine Arbeit! Wie soll es da stehen und gehen! Welch’ ein Elend wird es da geben! Sie werden hungern, mehr als zuvor. Und dazu die arme, kranke Mutter!«
Sie weinte leise, aber herzbrechend vor sich hin. Und als Engelchen nichts dazu sagte, fuhr sie nach einer Weile schluchzend fort: »Und nun ich dazu im Gefängnisse!«
»Man wird Dich entlassen,« tröstete Engelchen.
»Entlassen? O nein! Seidelmann wird bei seiner Aussage bleiben, und ich werde wegen Diebstahls bestraft werden.«
Da nahm Engelchen alle ihre Weisheit zusammen und sagte:
»Nein, das wird nicht geschehen! Noch giebt es einen lieben Gott, und noch giebt es gute Advocaten!«
»Ja, wenn man so am lieben Gott festhalten könnte!«
»Das kannst Du! Ich wollte, der alte Papa Hauser wäre da; der
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