Der verlorne Sohn
die Geschwister wieder zu sich genommen?«
»Nein.«
»So sind sie auch jetzt noch bei Hausers?«
»Sie werden für immer dort bleiben.«
»Aber der Vater? Du sagtest vorhin, daß er keine Arbeit habe. Er muß doch leben!«
»Für ihn ist auch gesorgt, liebe Gustel.«
»Ohne Arbeit? Sagest Du denn nicht, daß er bei der Mutter sei?«
»Ja.«
»Aber diese ist ja todt. Wie kann er bei ihr sein?«
Engelchen schwieg. Sie wußte nicht, was sie antworten solle, und darum zog sie vor, lieber gar nichts zu sagen. Also entstand eine Stille, während welcher Gustel auf eine Antwort wartete. Als diese aber nicht erfolgte, kam es plötzlich über sie wie ein Verständniß dessen, was Engelchen eigentlich gesagt hatte.
»Herrgott!« sagte sie. »Verstehe ich Dich recht, Engelchen?«
»Was meinst Du?«
»Du sagst, daß für den Vater gesorgt sei?«
»Ja. Er hat keine Noth.«
»Er ist bei der Mutter?«
»Gustel, bitte, ergieb Dich darein.«
Da stieß das arme Mädchen einen Schrei aus, so schrill und laut, daß er in allen Corridoren des Gefängnisses zu hören war. Dann war es still, ganz still in der Zelle und draußen. Bald aber hörte man Schritte, Schlüssel und Riegel rasselten, und fragende Stimmen erklangen. Dann wurde die Thür geöffnet. Der Wachtmeister trat herein und ließ das Licht der Laterne auf die beiden Lager fallen.
Gustel lag regungslos, mit geschlossenen Augen auf dem ihrigen; Engelchen aber hatte sich in sitzende Stellung empor gerichtet.
»Haben Sie den Schrei gehört?« fragte er.
»Ja.«
»Ihre Nachbarn sagten, es war hier.«
»Ja, Herr Wachtmeister, es war hier.«
»So! Wer war es denn?«
Engelchen deutete stumm nach ihrer Freundin.
»Die? Warum?«
»Sie erfuhr, daß ihr Vater und ihre Mutter gestorben sind.«
»Hm! Und Sie haben es ihr gesagt?«
»Ja.«
»Das hätten Sie unterlassen sollen!«
»Ich konnte nicht anders. Sie fragte nach den Eltern.«
»Die Hausordnung verbietet überhaupt solche Unterredungen zwischen den Gefangenen. Wenn sich solche Fälle wiederholen, muß ich Sie Beide auseinander nehmen.«
Er trat näher und leuchtete auf Gustel nieder. Sie behielt die Augen geschlossen und bewegte sich nicht.
»Fräulein Beyer!« sagte er.
Da öffnete sie langsam die Augen und richtete den starren Blick auf ihn.
»Fehlt Ihnen etwas?«
Es war, als ob sie sich erst besinnen müsse; dann schüttelte sie langsam den Kopf, doch ohne ein Wort zu sagen.
»Sie sind erschrocken. Wenn Sie etwas wünschen, so sagen Sie es mir!«
Sie schüttelte abermals mit dem Kopfe. Er wurde nun doch besorgt und fragte darum:
»Warum sprechen Sie nicht? Können Sie nicht reden?«
Da endlich richtete sie sich auf den Ellenbogen auf und antwortete:
»Ich danke, Herr Wachtmeister! Ich brauche nichts!«
»Gut! Wer wird denn so erschrecken! Wir müssen ja Alle sterben, und Ihren Eltern ist nun wohl. Trösten Sie sich also, und vermeiden Sie in Zukunft solche aufregende Gespräche!«
»Verzeihen Sie!«
»Dieses Mal mag es so hingehen, aber vergessen Sie nur nicht wieder, daß unsere Hausordnung eine sehr strenge ist!«
Er ging. Man hörte draußen, nachdem er wieder zugeschlossen hatte, seine Schritte verhallen, und dann trat die vorige Stille ein.
Engelchen bereute jetzt, Alles gesagt zu haben. Aber sie war gefragt worden. Hätte sie Lügen machen sollen? Was hätte sie denn sagen können? Sie hüllte sich in ihre Decke, schloß die Augen und versuchte einzuschlafen. Aber sie kam nicht dazu, denn nach einiger Zeit flüsterte Gustel:»Engelchen!«
Die Angerufene antwortete nicht. Sie wollte lieber so thun, als ob sie eingeschlafen sei.
»Engelchen, schläfst Du schon?«
Und als keine Antwort erfolgte, setzte sie sich auf und sagte:
»So schnell kannst Du nicht eingeschlafen sein. Willst Du Dich verstellen? Da komme ich hinüber!«
»Wir dürfen doch nicht sprechen!«
»O doch!«
»Der Wachtmeister hat es ja verboten!«
»Nur nicht laut sollen wir reden!«
»Und nicht von diesen Dingen!«
»Aber ich muß nun auch das Weitere erfahren!«
»Jetzt nicht! Du erschrickst und wirst dann laut.«
»Nun nicht mehr. Es ist überwunden. Wir werden nur ganz leise flüstern, so daß uns Niemand hört.«
»Wird es nicht besser sein, wir schlafen?«
»Denkst Du, daß ich schlafen kann? Schlafen, nach Dem, was ich von Dir erfahren habe?«
»Versuche es, liebe Gustel!«
»Es geht nicht. Sei gut! Sei barmherzig! Sage mir, was weiter geschehen ist?«
»Magst Du nicht warten bis morgen früh,
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