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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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gestreift hat.«
    »Nur gestreift! Warum hast Du nicht besser gezielt?«
    Diese Worte wurden zischend zwischen den Zähnen hervorgestoßen. Engelchen fühlte eine wachsende Bangigkeit. Sie sagte: »Gustel, mir wird es angst vor Dir!«
    »Angst? Warum?«
    »Du bist so eigenthümlich, so ganz anders als immer.«
    »O, Dir werde ich nichts thun! Weißt Du, wer die Schuld trägt, daß ich hier bin?«
    »Seidelmann.«
    »Ja, er! Und wer ist schuld daran, daß meine armen Eltern sterben mußten?«
    »Auch Seidelmann!«
    »Ja, er, er! Und Du hast ihn nicht erschossen!«
    »Das wollte ich ja auch gar nicht!«
    »Aber ich will es!«
    »Mein Gott! Sprich nicht solche Worte!«
    »O, ich werde nicht nur sprechen, sondern handeln! Mag man mich verurtheilen oder nicht, einmal werde ich doch wohl wieder frei. Meinst Du nicht?«
    »Ganz gewiß!«
    »Dann gehe ich hier fort, nach Hause. Und weißt Du, was ich thun werde?«
    »Nein«
    »Ich werde mir eine Waffe verschaffen, ein scharfes Messer, ein Gewehr – und wenn ich es stehlen soll! Und dann, o, dann wird dieser Teufel nicht blos wieder gestreift werden, sondern die Kugel oder die Klinge soll ihn in das Herz treffen!«
    »Gustel, willst Du mich zum Fürchten machen? Mir graut fast vor Dir!«
    »Ah! Graut Dir vor mir? Wirklich?«
    »Ja; sehr!«
    »Nun, sei ruhig! Dir werde ich nichts thun; aber ihm soll noch viel mehr vor mir grauen, ihm, dem Mörder meiner Jugend, meiner Ehre, meines Lebens und meiner Eltern! Das mußte herunter vom Herzen; das mußte ich Dir noch sagen! Nun aber werde ich Dich nicht mehr belästigen. Schlaf wohl!«
    »Nein, nein! So schlafe ich nicht wieder ein! Gustel, Du mußt mir versprechen, von diesem Gedanken zu lassen!«
    »Kann ich, wenn der Gedanke nicht von mir läßt?«
    »Bete, o bete: Führe uns nicht in Versuchung!«
    »Vielleicht hast Du Recht! Es ist ein Teufel, welcher in Gestalt dieses Gedankens mich erfassen will. Ich werde mit ihm ringen. Ich werde bis morgen keine Ruhe mehr finden. Du aber, schlafe ruhig, Engelchen! Gute Nacht!«
    »Gute Nacht, Du Arme, Arme!« – – –
    – – – Kurz nach dem Mittage des verflossenen Tages, also ungefähr um die Zeit, in welcher Fritz Seidelmann mit dem Kaufmann Winkler im Gasthofe zum grauen Wolf gesessen hatte, ging der Knappschaftsarzt durch das kleine Gebirgsstädtchen. Er trat in ein armseliges Häuschen, stieg eine Treppe empor und öffnete eine Thür, ohne vorher angeklopft zu haben. Ein geradezu dick zu nennender, fürchterlicher Dunst schlug ihm entgegen, so daß er zurückfuhr und nur nach augenblicklicher Ueberwindung seines Wiederstrebens einzutreten vermochte.
    »Guten Tag,« sagte er.
    »Guten Tag, Herr Doctor! Willkommen!«
    Der das sagte, war ein bleicher, fahlwangiger Mann, welcher an einem Tische gesessen hatte, auf welchem ein Reißbret lag. Er stand vom Stuhle auf.
    »Sapperment, Wilhelmi, welche Luft haben Sie hier!«
    Der Mann zuckte traurig die Achseln.
    »Ich kann nicht dafür,« antwortete er.
    »So lüften Sie doch!«
    »Es ist so kalt, Herr Doctor! Und Diese da liegen ja im Fieber. Wie darf ich da lüften!«
    Er deutete nach einer Ecke der Stube. Es war ein schauderhafter Anblick, welcher sich dort bot. Auf kurzem Stroh und alten Lumpen lagen da eine Frau und drei Kinder, welche fast gar nicht das Aussehen von Menschen hatten. Ihre Gesichter waren von einer scheußlichen Kruste bedeckt, und ihre Hände und ihre Körper ebenfalls, wie man leicht sehen konnte, da die Glieder nur ganz nothdürftig mit alten Kleidungsstücken bedeckt waren.
    In dieser Stube herrschten die Blattern, die bösartigen Menschenpocken!
    »Und doch müssen Sie lüften!«
    »Kalt, kalt!« rief die kranke Frau.
    »Hören Sie?« sagte der Mann. »Bitte, schließen Sie die Thür! Die Frau kann den Tod davon haben. Sie liegt im Fieber, und hier zieht es. Die Blattern vertragen solche Kälte nicht!«
    »Feuern Sie doch!«
    Der Mann deutete nach dem Ofen und fragte:
    »Womit?«
    »Mit Holz, Kohlen – mir ganz egal! Aber gefeuert muß natürlich werden.«
    »Herr, Kohlen und Holz kosten Geld.«
    »Nun, Sie verdienen ja Geld!«
    »Ich? Wie viel? Wissen Sie das?«
    Er trat zur Thür und machte sie zu, trotz des mißbilligenden Blickes, den ihm dabei der Arzt zuwarf.
    »Jedenfalls so viel, wie Sie brauchen. Sie sind ja Musterzeichner. Das ist ein lohnendes Geschäft.«
    »Musterzeichner bei der Firma Seidelmann und Sohn. Wissen Sie vielleicht was das heißt?«
    »Sie wollen doch nicht sagen, daß diese beiden

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