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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Ist Appetit da?«
    »Nicht nur Appetit, sondern sogar Hunger!«
    »Was haben die Kranken genossen?«
    »Seit vorgestern zwei solche Brodchen.«
    Er zog den Tischkasten auf und nahm ein hartes, altes Dreierbrodchen heraus.
    »Zwei? Vier Personen?«
    »Ja. Ich hatte nicht mehr.«
    »Sie haben ja noch eins!«
    »Mein letztes; weiter habe ich nichts. Es ist für heute. Jeden Tag ein Dreierbrodchen, in Wasser aufgeweicht.«
    »Hm! Und was speisen Sie?«
    Der Mann wendete sich ab und warf den starren Blick zum Fenster hinaus.
    »Nichts!« sagte er.
    »Aber, Sie müssen doch Etwas essen!«
    »Eigentlich, ja. Ich werde noch die ganze folgende Nacht arbeiten. Morgen früh habe ich die Muster fertig und erhalte acht Gulden heraus. Dann werden wir einmal essen können.«
    Der Arzt schüttelte den Kopf.
    »Ich begreife solche Verhältnisse nicht,« sagte er. »Vierzehn Tage nichts, und dann auf einmal acht ganze Gulden! Es muß doch am Mangel an richtiger Eintheilung, an Wirtschaftlichkeit liegen.«
    Er bückte sich zu dem neben der Frau liegenden Kinde nieder.
    »Sapperment!« sagte er. »Das ist ja todt!«
    Der Musterzeichner griff sich mit der Hand nach dem Herzen.
    »Ja!« stieß er hervor.
    »Wann ist es gestorben?«
    »Vor zwei Stunden.«
    »Hm! Lassen Sie einmal sehen!«
    Er nahm seinen Stock, betastete mit demselben die Pockenkruste, welche das Gesichtchen der kleinen Leiche dick bedeckte, und sagte dann im schärfsten Tone: »Herr Wilhelmi, ich bin gezwungen, Sie anzuzeigen!«
    Der Mann warf ihm einen Blick zu, in welchem ein greller, feindseliger Blitz aufloderte, fragte aber in scheinbar ganz ruhigem Tone: »Mich anzeigen? Warum?«
    »Das Kind ist keines natürlichen Todes gestorben!«
    »Ah! So!«
    »Ja. Es ist vernachlässigt worden.«
    »Von wem?«
    »Von Ihnen natürlich. Es ist erstickt und verhungert.«
    »Herr Doctor, können Sie das beweisen?«
    »Jawohl! Die Kruste bedeckt den Mund und das Näschen über einen Zoll hoch. Sie mußten dafür sorgen, daß Oeffnung geschafft wurde.«
    »Ist das wirklich meine Pflicht gewesen?«
    »Natürlich!«
    »Sie meinen, daß ich den Schnitt hätte vornehmen sollen?«
    »Sie? Was verstehen Sie davon! Sie hätten jedenfalls daneben geschnitten.«
    »Nun wohl! Ich habe nicht weniger als fünfmal zu Ihnen geschickt, und einmal bin ich selbst bei Ihnen gewesen.«
    »Ich war nicht daheim.«
    »Ich habe Ihre Frau Gemahlin von dem Stande der Dinge benachrichtigt. Sie haben mir durch dieselbe sagen lassen, daß Sie kommen würden, wenn es nöthig sei.«
    »Ich konnte nicht wissen, daß es so sehr dringlich sei.«
    »Ich habe Ihrer Frau Gemahlin mitgetheilt, daß das Leben des Kindes auf dem Spiele steht.«
    »Jeder, der zu mir kommt, pflegt seine Angelegenheit so schlimm wie möglich darzustellen. Wenn man dem glauben wollte, würde man in einem Monate todt gehetzt!«
    »Nun, so lassen wir lieber einen Patienten sterben.«
    »Uebrigens giebt es mehrere Ärzte.«
    »Die ich aber nicht gesetzlich zwingen kann, zu mir zu kommen. Ich war bei allen, doch vergebens. Wer nun ist der Mörder meines Kindes?«
    »Das ist eine sehr müßige Frage! Haben Sie den Todesfall bereits gemeldet?«
    »Ich war bei der Leichenfrau.«
    »Sie wird doch bald kommen? Die Leiche darf nicht hier liegen bleiben! Sie muß fort!«
    »Gewiß muß sie fort. Ich habe bereits eine alte Kiste ausgeräumt.«
    Der Arzt blickte den Mann fragend an.
    »Eine alte Kiste? Wozu?«
    »Als Sarg.«
    »Was? Sie wollen das Kind in einer Kiste begraben lassen?«
    »Ja. Ich kann keinen Sarg bezahlen.«
    »Der Tischler wird Ihnen Credit geben.«
    »Ich kann ihn nicht darum bitten, denn ich weiß, daß er ebenso arm ist wie ich, und daß ich den Sarg später ebenso wenig bezahlen kann, wie jetzt. Das Begräbniß wird auch ohnedies die acht Gulden, welche ich morgen erhalte, auffressen. Zu allem Elende des Lebens kommt der Schluß, daß man nicht einmal umsonst sterben darf!«
    »Sie sind ein Welt-und Menschenfeind!«
    »Ich bin es nicht, und wenn ich es wäre, so hätte ich alle Ursache dazu, es zu sein. Aber bitte, Herr Doctor, sehen Sie die beiden anderen Kinder an. Auch sie können kaum noch athmen. Wird keine Oeffnung gemacht, so ersticken auch sie.«
    Doctor Werner zog die Brauen zusammen. Mit Blatternkranken hatte er gar nicht gern Etwas zu thun. Aber eins der Kinder war, weil er nicht gekommen war, bereits gestorben; er sah ein, daß er gezwungen sei, seine Pflicht zu thun.
    »Kommen Sie her, und halten Sie die Patienten!«

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