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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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befahl er. »Ich werde den Schnitt vornehmen.«
    Der Musterzeichner gehorchte. Er brachte die beiden Kinder in die passende Lage, und der Arzt, welcher keines von ihnen mit der Hand berührte, machte ihnen mit dem Messer einen Schnitt durch die Kruste, so daß der Zutritt der Luft zum Munde ermöglicht wurde. Dabei aber war ihm anzusehen, mit welchem Abscheu er diese Operation eigentlich unternahm.
    »Vor zwei Stunden wäre es hier auch noch Zeit gewesen,« sagte Wilhelmi, indem er auf die Leiche deutete.
    »Ich hatte keine Zeit und bin nicht allwissend,« antwortete Doctor Werner barsch. »Nun aber haben diese Beiden nicht nur Luft, sondern sie verlangen auch Nahrung.«
    »Wie aber sollen sie diese zu sich nehmen? Sie haben auch den Mund voller Pocken.«
    »Sie binden ein Stück Darm an eine Federspule. Die Spule wird den Patienten in den Mund gesteckt, und in den Darm gießen Sie die Milch.«
    »Also Milch?«
    »Ja, und Bouillon!«
    »Schön! Bouillon!« nickte der Musterzeichner grimmig vor sich nieder. »Vielleicht von Fleischextract?«
    »Ja. Doch müssen Sie dabei auch einige Bouillonknochen mit verwenden.«
    »Bouillonknochen! Ja, ja! Gut! Schön!«
    »Und ganz nothwendig ist die Medizin! Die müssen Sie unbedingt holen. Die Frau bekommt zweistündlich einen Eßlöffel voll und jedes Kind halb so viel.«
    »Dann ist beim dritten Mal Einnehmen die Medizin für anderthalb Gulden alle geworden.«
    »So holen Sie eine zweite Flasche.«
    Jetzt konnte sich der arme Teufel nicht mehr halten. Er fragte:
    »Nicht wahr, in der Löwenapotheke soll ich sie holen.«
    »Natürlich! Dort ist sie besser als in der Mohrenapotheke.«
    »Der Mohrenapotheker aber sagt, daß Sie nur deshalb Ihre Patienten in die Löwenapotheke schicken, weil Sie dort dreiunddreißig Prozent von dem Preise Ihrer Recepte Antheil erhalten.«
    Der Arzt fuhr zornig auf.
    »Was? Das hat er behauptet?«
    »Ja.«
    »Zu wem?«
    »Zu mir und zu Anderen. Verklagen Sie ihn, wenn es nicht wahr ist! Ich bin bereit, Ihnen zu zeugen.«
    »Pah! Mit einem solchen Menschen streite ich mich nicht an einer Gerichtsstelle herum! Eine solche niederträchtige Verleumdung wird durch sich selbst gerichtet. Ich werde nächstens wiederkommen. Adieu!«
    Er ging.
    Der Musterzeichner trat an das zugefrorene Fenster, hauchte eine Oeffnung in das Eis und blickte ihm nach. Es war ihm ganz so, als müsse er sich durch einen lauten, wilden Schrei Luft machen. Er faltete ganz unwillkürlich die Hände.
    »Herr, hilf uns! Wir verderben!«
    Dieses Stoßgebet wollte sich ihm auf die Lippen drängen, aber er schluckte es wieder hinab. Früher hatte er gebetet, ja; dann aber hatte er es verlernt. Im tiefen Schlamme des Elendes steckend, hatte er sich vergeblich nach Hilfe umgeschaut, und da war ihm der Glaube an Gott und die Menschen verloren gegangen. So wenigstens dachte er. Er hielt es nicht für wahr, daß dieser Glaube eigentlich unveräußerlich sei.
    Da fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Seine alte Schwiegermutter war zu ihm getreten. Sie war eine fromme Frau und eine gute Mutter. Sie hatte mit ihm gehungert, gelitten und gefroren, und stets hatte sie ein Trosteswort für ihn gehabt. Sie kannte ihn. Sie wußte, was in ihm vorging. Sie hatte das alte, halb zerfetzte Gesangbuch in der Hand, hielt ihm ohne ein Wort zu sagen, eine aufgeschlagene Seite entgegen und deutete mit dem hageren, abgezehrten Finger auf die Stelle:
    »Gott unser Heil, ach wende
    Der Zeiten schweren Lauf;
    Thu Deine milden Hände,
    Den Schatz der Allmacht auf!
    Was nur ein Leben hat,
    Nährst Du mit Wohlgefallen.
    O, schaffe doch uns Allen
    In unserer Armuth Rath!«
     
    »Was soll das?« fragte er. »Kann das alte Buch uns denn Hilfe bringen?«
    »Weiter!« sagte sie, indem sie mit dem Finger nach unten zeigte:
     
    »Herr, der Du auch uns schufest,
    Hör unser Angstgeschrei!
    Allmächtiger, Du rufest
    Dem Nichts, damit es sei.
    Zu Helfen ist Dir leicht;
    Du kannst dem Hunger wehren,
    Im Mangel uns ernähren,
    Wenns uns unmöglich deucht!«
     
    Er stieß ihre Hand mit dem Buche zurück und sagte:
    »Ich fragte, ob dieses Buch uns Hilfe bringen kann?«
    »Das Buch nicht, aber wohl Der, von dem darin die Rede ist.«
    »Gott etwa?«
    »Ja.«
    »Pah! Der wird sich viel um uns bekümmern!«
    »Mein Sohn, versündigen Sie sich nicht! Er ließ Elias durch die Raben speisen; er sättigte Tausende mit fünf Broden und zwei Fischen, darum –«
    »Lassen Sie, Mutter, lassen Sie!« fiel er ihr in die Rede. »Ich

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