Der verruchte Spion
bliebe.
Sie öffnete die Augen und blinzelte ihn verwirrt an. Nathaniel legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie sanft flussaufwärts in Richtung ihrer Habseligkeiten. Dann gab er ihr einen leichten Schubs.
»Ich komme gleich nach. Ich muss mich noch anziehen.« Und irgendwie musste er seine pulsierende Erregung abkühlen.
Während Willa außer Sicht stolperte, ergriff Nathaniel den Eimer und goss sich Gallone um Gallone eiskaltes Flusswasser über den Kopf.
10. Kapitel
W illa warf sich eine Hand voll kalten Flusswassers nach der anderen ins Gesicht, bis endlich die Hitze und die Röte nachließen und sie wieder klar denken konnte. Sie kniete auf einem großen, flachen Felsen, der in den Fluss vorsprang. Auf einem solchen Felsen hatten früher die Frauen ihre Wäsche geschlagen. Willa wollte am liebsten ihren eigenen Schädel gegen den Granit stoßen.
Sie hatte für ihre Ankunft in London ihr letztes sauberes Kleid angezogen, ihr bestes. Ihr Haar war ordentlich geflochten. Sie war sauber und sah mit ihrem hoch geschlossenen Kleid unter den gegebenen Umständen so damenhaft wie nur möglich aus.
Es half nichts. Sie wollte unanständige, wunderbare Dinge tun. Sie wollte sich die Kleider vom Leib reißen und nackt mit Nathaniel im Wasser tollen. Sie wollte Laub in ihrem Haar und Moos unter ihren Pobacken und Nathaniel zwischen ihren Schenkeln. Sie wollte …
Sie stieß die Hände noch einmal ins eiskalte Wasser und wusch sich das Gesicht.
Es wäre falsch gewesen, mit Nathaniel am Flussufer Liebe zu machen, schockierend und falsch, sie würde niemals vergessen, wie er aussah, als er ihr im seichten Wasser entgegenkam …
Sie beugte sich vornüber und spritzte sich erneut kaltes Wasser ins Gesicht.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich etwas bewegte. Willa seufzte. Gerade jetzt, wo sie sich fast beruhigt hatte.
»Nathaniel, ich …«
Es war nicht Nathaniel. Am Flussufer stand ein Mann mit einem ruinierten Gesicht.
Die eine Hälfte seines Gesichts war unglaublich schön. Fein gemeißelte Züge unter dem Bartwuchs mehrerer Wochen, ein strahlend blaues Auge mit langen Wimpern, um die ihn Willa jederzeit beneidet hätte. Die eine Seite seines Gesichtes war perfekt.
Doch die andere war umso tragischer anzusehen. Narben zogen sich über die rechte Gesichtshälfte wie die Nebenarme eines Flusses. Eine davon schnitt in seinen Mundwinkel und verzerrte seine ansonsten makellosen Lippen. Sein dunkelrotes Haar war ungepflegt, was zum Bart passte, und seine Kleidung bestand aus Lumpen. Er ging einen Schritt auf sie zu, wobei er mit der Hand seine Augen beschirmte und sie unablässig anschaute.
Überrascht trat Willa einen Schritt zurück …
Und stürzte in den Fluss.
Ihre Röcke zogen sie sofort unter Wasser. Sie war keine schlechte Schwimmerin, aber sie hatte keine Chance gegen die zahlreichen Lagen aus Musselin, die sich voll Wasser sogen und sie wie Blei nach unten zogen.
Einen schwarzen Augenblick lang konnte sie nichts tun, aber neben dem flachen Felsen war das Wasser nicht sehr tief. Willa gelang es trotz der starken Strömung, die an ihren Röcken zerrte, sich auf die Fußspitzen zu stellen. Sie warf einen Arm um den Felsen, auf dem sie gestanden hatte, holte tief Luft und rieb sich das Wasser aus den Augen.
In diesem Augenblick sprang der Mann vom Flussufer ins Wasser. Schnell brachte sich Willa hinter dem Felsen in Sicherheit, aber im selben Moment begriff sie, dass der Mann versuchte, hinter ihrem ruinierten Kleid herzuschwimmen, das wohl mit ihr ins Wasser gefallen sein musste.
Er stellte sich anfangs gar nicht so schlecht an, und Willa
war guter Dinge, dass er ihr helfen könnte. Dann schien er plötzlich zu ermüden. Voller Entsetzen beobachtete Willa, wie er im strudelnden Wasser unterging.
»Nathaniel! Nathaniel!« Oh, lieber Gott, lass ihn mich hören! Der Kopf des Mannes erschien über der Wasseroberfläche und war sofort wieder verschwunden. »Nathaniel!«
Nathaniel brach mit einem riesigen Knüppel in der Hand durchs Unterholz. Als er sie sah, ließ er das Holz fallen und wollte sich zu ihr ins Wasser stürzen. Willa schüttelte den Kopf und deutete flussabwärts.
»Hilf ihm! Dort! Kannst du ihn sehen?«
Nathaniel sprang kopfüber ins Wasser, als er den Mann kurz erblickte, und schwamm mit kräftigen Zügen in die starke Strömung. Willa konnte ihn kaum noch sehen und kämpfte sich auf ihren Felsen hoch. Ungeachtet des Wassers, das aus ihren Röcken floss, stellte sie sich
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