Der verruchte Spion
Gefühl, nur knapp einer Katastrophe entronnen zu sein, nicht abschütteln. Durch das Wasser war ihr eiskalt geworden, aber es war entsetzliche Angst gewesen, die ihr die Knie weich werden ließ. Sie zitterte wie Espenlaub, wenn sie daran dachte, dass Nathaniel Stonewell ihr mehr bedeutete, als sie je vermutet hatte.
Wasser tropfte von ihrem Haar auf ihr Gesicht … oder war das eine Träne? Sie war üblicherweise nicht nah am Wasser gebaut, aber die Ereignisse der letzten Tage forderten ihren Tribut. Weinen wäre jetzt wahrscheinlich nicht einmal schlecht.
Aber sie wollte nicht weinen. Sie wollte auf Nathaniels Schoß klettern und die Arme um seinen festen Körper schlingen, um den Teil von sich, der sich immer noch fürchtete, davon zu überzeugen, dass es ihm gut ging.
Nathaniel striegelte in der Nähe die Pferde. Er stand so, dass er sie und das Feuer gut im Blick hatte. Sie lächelte beim Gedanken an seinen Beschützerinstinkt, obwohl sie nicht glaubte, dass der Fremde besonders gefährlich war.
Der Mann sah – nass wie er war – nicht unbedingt besser aus. Er hatte sich das nasse Haar aus dem Gesicht gestrichen, sodass offenbar wurde, wie ausgemergelt er war. Er hob den Blick und starrte ihr in die Augen. Die Stille wog schwerer mit jeder Sekunde, die er sie unverwandt anschaute.
Er könnte eine beeindruckende Erscheinung sein, dachte sie, denn er war groß. Mindestens so groß wie Nathaniel und wahrscheinlich ebenso stattlich, wenn er nicht so ausgemergelt wäre.
Sie fürchtete sich keinen Deut vor ihm.
Der Mann ging zu der Seite des Feuers, wo Nathaniel den
Kessel hingestellt hatte. Ohne den Blick von ihr zu wenden, goss er ihr Tee in eine dünne Reisetasse und brachte sie zu ihr hinüber.
»Ich mache das.« Nathaniel trat zwischen sie. Die Männer standen sich für einen Moment Auge in Auge gegenüber, dann wich der andere zurück und gab ihm die Tasse.
Nathaniel kniete neben ihr nieder und reichte ihr den Tee. Wortlos legte er ihre zitternden Finger um die wärmende Tasse. Sie trank gierig und zuckte zusammen, als die heiße Flüssigkeit ihre Kehle hinunterrann.
Ohne den Blick von ihnen zu wenden, ging der Fremde leise an seinen Platz auf der anderen Seite des Feuers zurück.
Fast war es Willa, als hörte sie Dick und Dan.
Was ist er?
Er war ein edler und ergebener Wolfshund, entschied sie. Einst ein edles Tier, war er ohne eigene Schuld auf der Straße gelandet, wo er alleine zurechtkommen musste. Man brauchte ihn nur anzusehen. Sogar jetzt erwartete er, dass sie ihm einen Tritt versetzen würde.
Er war sehr interessant, und sie hätte unter anderen Umständen gerne die Zeit damit verbracht, ihn mit unwillkommenen Fragen zu löchern. Aber das elende Gefühl ließ endlich nach und hinterließ sie erschöpft und mit dem brennenden Verlangen, Nathaniel Stunde für Stunde einfach nur zu betrachten.
Endlich waren die Pferde bereit und Willa so trocken, wie sie nur werden konnte. Selbst feucht und zerknautscht war ihr Musselinkleid das Beste, was ihr geblieben war. Sie behielt Blunts Decke über der Schulter, denn gegen Abend würde es nicht wärmer werden.
Nathaniel half ihr auf ihre erschöpfte Stute. Dann wandte er sich an den Fremden: »Habt vielen Dank, Sir. Ich bin erfreut, dass Ihr euch so schnell erholt habt.«
Der Mann schaute ihn wachsam an. Keine Regung zeigte sich in seinem vernarbten, bärtigen Gesicht. Irgendetwas war an ihm …
Nathaniel war nicht wegen seiner Narben beunruhigt. Da war etwas Dunkles, das in seinen Augen brannte.
Und doch hielten Mitleid und der Respekt vor einem Mann, der so viel für sein Land gegeben hatte, Nathaniel davon ab, ihn näher zu befragen. In diesen Tagen war die Welt voll von Geschlagenen, voll von Arm- oder Beinamputierten. Und voller Männer mit einem dunklen Geheimnis. Dieser Mann wäre nicht der Erste, der vom Schlachtfeld zurückkehrte und nicht nur äußerlich, sondern auch tief im Innersten versehrt war.
Nathaniel entschied, dass sie sich besser vor ihm in Acht nehmen sollten. »Lebt Ihr hier in der Nähe, Mister …?«
»Day. John Day.« Mehr sagte er nicht. Er musterte Nathaniel angestrengt. Als dieser ihm zunickte, schien er sich etwas zu entspannen und fuhr fort: »Ich bin unterwegs nach London. Es gibt dort einen, der mir was schuldig ist.«
Das war keine Überraschung. Fast jeder, der aus dem Norden nach London reiste, würde diese Straße nehmen. Und der Mann hatte sich selbst in Gefahr gebracht, um Willa zu helfen. Er mochte
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