Der Wanderchirurg
ausweichend. Einerseits war er sicher, dass sie Arturo vertrauen konnten, andererseits wollte er erst die anderen Gaukler besser kennen lernen. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. »Verstehe«, sagte Arturo, »kümmern wir uns lieber um unseren toten Freund: Ich weiß nicht, ob Santor sich zum christlichen Glauben bekannte oder nicht. Ich werde Tirzah nachher fragen. In jedem Fall hat er ein Recht darauf, dass sein Leib vor wilden Tieren geschützt wird.«
Vitus nickte. »Komm, Magister, wir holen jetzt das Werkzeug, um den Sarg zu zimmern.«
Bei der Arbeit an dem Karren fanden sie noch zwei weitere Armbrüste, dazu mehrere der kurzen, starken Pfeile. Auch das Schwert, das einer der Angreifer fortgeworfen hatte, tauchte wieder auf. Nach Rücksprache mit Arturo verteilten sie die Waffen auf die einzelnen Wagen, um bei künftigen Überfällen besser gewappnet zu sein.
Am Abend war der behelfsmäßige Sarg fertig gestellt, und sie hoben Santors sterbliche Überreste hinein. Tirzah trat hinzu und gab ihrem Vater seine Fidel, dazu einen Hammer und einen Blasebalg in den Sarg. Seine rechte Hand legte sie auf sein Herz. Als sie sich aufrichtete, begegnete sie Vitus' fragendem Blick.
»Wir Zigeuner geben unseren Toten das Wichtigste mit auf den Weg«, flüsterte sie. »Vater soll es später an nichts fehlen. Er war früher Schmied, musst du wissen, unten in Sevilla, und er hat die Musik immer geliebt.«
Danach hielten sie eine kurze, christliche Trauerfeier ab, denn Santor hatte an Gott den Allmächtigen geglaubt, obwohl er auch ein Anhänger heidnischer Bräuche gewesen war. Bevor sie den Sarg der Erde übergaben, sprach Vitus das Abschiedsgebet:
»Ich bin die Auferstehung und das Leben,
spricht der Herr,
ich bin der Weg und die Wahrheit,
denn siehe, ich lebe,
und auch du sollst leben!
Ich bin der wahre Weinstock,
von dem du Glaube und Kraft gewinnen mäßest,
in Ewigkeit
Amen.«
Tirzah schluchzte in den Armen von Maja, die ihr seit dem Überfall nicht von der Seite gewichen war.
»Weine nur«, murmelte Zerruttis Gefährtin immer wieder, »weine nur, das erleichtert es ...«
Als alles vorbei war, setzte die Gruppe sich an das abendliche Feuer und bereitete wie immer ihre Mahlzeit zu. Tirzah aß so gut wie nichts und verschwand vorzeitig in ihrem Wagen.
Als das Feuer heruntergebrannt war und alle ihre Behausungen aufgesucht hatten, blieb Vitus noch eine Weile sitzen und starrte unschlüssig in die Glut. Schließlich erhob er sich und steuerte den Wagen von Arturo an. Er klopfte kurz.
»Herein.«
Der Fechtmeister und Anacondus lebten in einem Chaos aus Kostümen, Zauberbällen, Keulen, Zinnbechern, Weinflaschen, zusammengerollten Plakaten, riesigen Schuhen, falschen Nasen, Talismanen, unterschiedlichsten Waffen, Werkzeugen, Kerzen, Seilen, Decken ... alles türmte sich zu einem heillosen Durcheinander auf. Dessen ungeachtet schienen die Bewohner sich ausgesprochen wohl zu fühlen. Arturo lag auf einer Art Bettstatt unter einem zerschlissenen Bärenfell und hielt das am Nachmittag erbeutete Schwert in der Hand. Terro döste am Fußende. Anacondus saß auf einer Kiste und las in einem Folianten, der Titel lautete De anguibus . Vitus registrierte erstaunt, dass Anacondus nicht nur lesen konnte, sondern auch der lateinischen Sprache mächtig war. Das Buch handelte von Schlangen.
»Was gibt's, mein Freund?«, fragte Arturo. Seine Fingerspitzen prüften die Schärfe der Klinge.
»Nun«, Vitus wusste nicht recht, wie er anfangen sollte,
»die Sache ist die: Jetzt, wo Santor tot ist, sieht es so aus, als müsste ich allein mit Tirzah in einem Wagen schlafen.«
Er zögerte. »Mir macht das natürlich nichts aus, aber ich möchte nicht, dass sie sich gestört fühlt. Gerade jetzt, nachdem das alles passiert ist.«
»Hm.« Arturos Finger glitten weiter über die Schneide. Anacondus klappte das Buch zu.
»Versteht ihr, was ich meine? Vielleicht könnte Maja zu ihr ziehen, und ich quartiere mich bei Zerrutti ein.«
»Ich glaube nicht, dass dem Magier das recht wäre«, sagte Arturo langsam.
»Zerrutti und Maja sind ein Paar«, erklärte Anacondus.
»Sie sind zwar nicht vor den Traualtar getreten, aber den Segen der Gaukler haben sie.«
»Ich verstehe«, sagte Vitus.
»Komm mal her.« Der Fechtmeister hielt Vitus die Waffe unter die Nase. »Mit diesem Schwert hätte man mich heute Nachmittag fast erschlagen, wenn da nicht ein besonders mutiger junger Mann gewesen wäre, der mich gerettet hat. Dreimal
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